Bericht des ehemaligen Zwangsarbeiters Nikolai Liwkowski
Von Carola Kleinert und Brigitte Fehlau
1. März 2000
Nikolai Liwkowski nahm an der Konferenz zur Geschichte des Gestapo-Lagers Schwetig teil. Er selbst war dort in der Zeit zwischen Juli und November 1942 inhaftiert. Sein Schicksal steht stellvertretend für das von Zehntausenden. Nie hat er in der Vergangenheit eine Entschädigung für das Erlittene erhalten, und er wird sie aller Voraussicht nach auch nie bekommen, denn was ihm angetan wurde, erfüllt nicht die gesetzlichen Kriterien, die ihn zu einer Entschädigung berechtigen würden. Nikolai Liwkowski ist heute 76 Jahre alt. Er lebt im polnischen Rzepin, nicht weit von Frankfurt/Oder. Über das Erlebte berichtet er folgendes:
Meine Kindheit verbrachte ich in einem kleinen Dorf in der Nähe von Lwow in der Ukraine. Das Dorf gehörte damals noch zum polnischen Staatsgebiet, befand sich jedoch nahe an der Grenze zur Sowjetunion.
1941, ich war noch nicht 17 Jahre alt, wurde ich zusammen mit ungefähr 150 anderen Jugendlichen, Mädchen und Jungen, nach Deutschland verschleppt. Der Transport ging nach Berlin, wo wir zunächst in einem Lager untergebracht wurden. Dort ging es zu wie auf dem Sklavenmarkt. Deutsche Arbeitgeber der unterschiedlichsten Branchen konnten sich hier ihre Arbeitskräfte aussuchen.
Ich selbst wurde zu schwerer Arbeit in einer Gerberei in Berlin-Wittenau eingesetzt. Wegen der schlechten Verpflegung beschlossen ein Freund und ich gemeinsam zu fliehen. Zu Fuß machten wir uns auf den Weg nach Hause. Der Weg war sehr beschwerlich, da wir nichts zu Essen hatten und auch auf den Feldern noch nichts Essbares zu finden war. Wir kamen bis zur Odergrenze, gerieten dort aber in die Hände der deutschen Polizei. Wir hatten natürlich keine Papiere. Um nicht unsere Flucht zu verraten, erzählten wir, wir seien von einem Transport übriggeblieben. Daraufhin wurden wir festgenommen und in das Gestapo-Gefängnis in Frankfurt/Oder gebracht, das sich im Gebäude der heutigen Musikschule befand.
Während unseres Aufenthaltes dort, im Juli 1942, waren wir mit etwa 20 russischen Kriegsgefangenen in einer kleinen Zelle eingesperrt und bekamen die ganze Zeit nichts zu essen. Es gab keinerlei Mobiliar, nicht einen Gegenstand dort, aber das Wasser stand etwa 10 cm hoch. Die ganze Zeit mussten wir im Wasser stehen. Niemand kann so lange stehen. Die russischen Kriegsgefangenen rollten ihre Mäntel zusammen und legten sie in die Zellenecken als eine Art Sessel übereinander, damit wir wenigstens sitzen konnten. Die Mäntel reichten nicht aus und so wechselten wir uns mit dem Sitzen ab. Jeder konnte ungefähr 5 bis 8 Minuten sitzen.
Nach einer Woche wurden wir von der Gestapo in das Lager Schwetig verlegt. Ich lebte mit ca. 25 Männern in einem Barackenraum. Es waren Polen und Russen. Am Tag arbeiteten wir entweder auf dem Flugplatz bei Kunersdorf oder bei Bauern in Kliestow, wo wir bei der Kartoffelernte eingesetzt wurden. Die Verpflegung war sehr schlecht. Für 7 Männer gab es täglich 1 kg Schwarzbrot, 1 Tasse Milchkaffee und abends einen Teller Kohlsuppe, ohne Fleisch natürlich. Mein Eindruck war, dass die Suppe häufig aus Gras gekocht war. Oft gab es auch Suppe aus Steckrüben, mit denen sonst das Vieh gefüttert wurde.
Zur Arbeit auf den Flugplatz sowie zu den Bauern mussten wir laufen, dabei wurden wir immer zu sehr schnellem Lauf angetrieben, auf dem Rückweg ebenso. Manchmal arbeiteten wir auch in einer Papierfabrik oder in einem Steinbruch. Da diese zum Laufen zu weit weg waren, wurden wir mit einem Transporter hingefahren. Als einmal während der Arbeit in der Papierfabrik zwei russische junge Männer flohen, wurden wir alle zur Strafe die ganze Nacht schikaniert. Wir mussten im Lager aufstehen, rennen, uns hinlegen, durch ein Fass springen usw. Das ging so lange, bis wir nicht mehr leben wollten vor Erschöpfung.
Das Lagerleben war sehr hart. Jeden Tag sind wir im Dunkeln aufgestanden und im Dunkeln ins Lager zurückgekommen. Wir mussten auch an Sonntagen arbeiten, z. B. Unkraut zwischen den Gleisanlagen zupfen, weil von den Deutschen sonntags ja niemand arbeitete. Es gab niemals einen Tag frei. Ständig wurden wir angetrieben zu rennen, ob wir nun im Lager auf die Toilette wollten oder auf dem Weg zur Arbeit waren oder zurück, immer wurden wir gehetzt. Es gab niemals Ruhe.
Kamen wir nach der Arbeit ins Lager zurück, hatten wir auch keine Ruhe. Als erstes wurden wir von der SS kontrolliert, ob wir etwas Verbotenes, wie z. B. Essen oder Zigaretten, bei uns hatten. Zumeist wurden wir dabei geschlagen. Dann gab es morgens und abends Appelle auf dem Lagerhof, wo wir gezählt wurden. Auch die Kranken, die nicht mehr gehen konnten, mussten raus. Wir trugen sie dann aus den Baracken zum Appell. Es gab auch eine Krankenstube, aber wer dort hinkam, kehrte nie wieder zurück. Ich erinnere mich an 12 bis 14 junge Leute, die in die Krankenstube gebracht wurden und die ich danach nie wieder gesehen habe.
Von der Arbeit durfte man nichts mitbringen, keine Kartoffeln, keine Äpfel oder Zigaretten - nichts. Bei einem Mitgefangenen fand die SS einmal ein kleines Päckchen Zigaretten. Ich weiß nicht, woher er es hatte, ob es ihm vielleicht geschenkt wurde. Er bekam 50 Schläge mit einem Gummischlagstock und konnte dann zwei bis drei Wochen nicht mehr laufen. Ich weiß nicht, was sie noch mit ihm machten und ob er überlebte. Überhaupt wurden wir wegen Missverständnissen oder Fluchtversuchen den ganzen Abend bis in die Nacht hinein schikaniert und geschlagen. Am Schlimmsten war ein kleiner deutscher Wachmann. Wenn er abends bei jemandem einen Zigarettenstummel fand, gab es 25 Schläge mit dem Gummischläger.
Im November 1942 wurde ich aus dem Lager entlassen und nach Frankfurt/Oder zum Arbeitsamt transportiert. Dort musste ich in einer Baracke, gleich neben dem Arbeitsamt schlafen, da es schon Abend war. Am nächsten Morgen holte mich eine Bauersfrau, die Tochter meines neues Dienstherrn, ab. Ich wurde vorher noch gewogen und mein Gewicht betrug 40 kg; vor meiner Deportation aus der Ukraine hatte ich 80 kg gewogen. Dokumente erhielt ich vom Arbeitsamt keine und arbeitete nun bei dem Bauern am Rande der Stadt Frankfurt/Oder. Als der Bauer starb, führte ich den Hof zwei Jahre lang allein weiter.
Nach dem Krieg bekam ich einen leerstehenden Hof ohne Vieh und Inventar in Rzepin, nicht weit von Frankfurt/Oder zugewiesen.
1990 konnte ich den Hof aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr weiterführen und übergab ihn dem Staat. Seither erhalte ich eine monatliche Rente von 400 Zloty (200 DM). Wie sie sehen, bin ich sehr krank. Eine Entschädigung für die Zwangsarbeit habe ich nicht erhalten, da ich nichts beweisen kann. Ich habe ja keine Papiere oder andere Dokumente.
Einmal habe mich an die polnische Regierung gewandt, aber die war der Ansicht, dass der Aufenthalt im Lager von Schwetig nicht mit den schweren Haftbedingungen anderer Lager zu vergleichen sei, die entschädigt würden.