Die Gründe für den Krieg der NATO gegen Jugoslawien?
Weltpolitische Macht, Öl und Gold
Erklärung der Redaktion des World Socialist Web Site
26. Mai 1999
aus dem Englischen (24. Mai 1999)
Seit dem 24. März 1999 überziehen die von den USA geführten NATO-Truppen Jugoslawien mit einem verheerenden Bombardement. In mehr als 15.000 Einsätzen hat die NATO jugoslawische Städte und Dörfer angegriffen. Fabriken, Krankenhäuser, Schulen, Brücken, Treibstofflager und Regierungsgebäude wurden getroffen. Tausende sind getötet oder verwundet worden. Es traf Pendler in Zügen und Bussen ebenso wie Beschäftigte des staatlichen Fernsehens. Sowohl im Kosovo als auch in Serbien wurden Wohnviertel getroffen.
Über die langfristigen Folgen dieses Krieges für Jugoslawien, die gesamte Balkanregion und Osteuropa äußern sich seine Urheber kaum. Ein großer Teil der Industrie und Infrastruktur, die seit Ende des Zweiten Weltkriegs aufgebaut worden waren, ist zerstört. Die Donau, eine wichtige Lebensader für die Wirtschaft Mitteleuropas, ist mittlerweile unpassierbar. In Serbien sind wiederholt die grundlegenden Voraussetzungen für die moderne Zivilisation - Elektrizitätswerke, Wasserwerke, sanitäre Anlagen - beschossen worden. Wie bereits im Irak wird das ganze Ausmaß der von amerikanischen, britischen und französischen Bomben angerichteten Verwüstung erst nach Kriegsende sichtbar werden - wenn die ersten Reportagen von überdurchschnittlichen Sterblichkeitsraten, besonders unter Kindern berichten.
Der Völkermord-Vorwurf
Die NATO und die Medien rechtfertigen den Angriff auf Jugoslawien als humanitären Einsatz gegen die Unterdrückung der Albaner im Kosovo. Die grobschlächtige und zynische Propagandakampagne, die mit der Bombardierung einhergeht, widerspiegelt auf ihre Weise die schreienden Widersprüche, in die sich die NATO bei der Rechtfertigung des Krieges verwickelt. Die plumpe Dämonisierung des jugoslawischen Präsidenten Milosevic, die weit auseinanderklaffenden Zahlenangaben über die Opfer serbischer Massaker und die Toten unter den Kosovo-Albanern, der ständig wiederholte Vorwurf des Völkermords und die unaufhörlichen Fernsehbilder leidender Flüchtlinge - all dies soll die Öffentlichkeit weniger durch Argumente überzeugen, als mürbe machen, abstumpfen und einschüchtern: "Opposition gegen die NATO bedeutet Unterstützung für die Zwangsvertreibung und den Massenmord an den Albanern!", verkünden die etablierten Politiker und Kommentatoren.
Während der Mobilisierung der öffentlichen Meinung zur Unterstützung der Bombardierung des Irak wiederholte die Clinton-Regierung unausgesetzt den Begriff "Massenvernichtungswaffen". Nur wenn man den Irak Tag für Tag beschieße, erklärte die Clinton-Regierung, könne man die Welt vor Saddam Husseins unsichtbarem Arsenal tödlicher Gase, Bakterien und Chemikalien bewahren. Im Krieg gegen Jugoslawien sind die "Massenvernichtungswaffen" durch eine noch stärkere Beschwörungsformel abgelöst worden: "ethnische Säuberungen". Diese Wortwahl hat den Vorteil, daß sie das Bild Nazi-Deutschlands erstehen läßt. Die "ethnische Säuberung" im Kosovo ist, folgt man der NATO-Logik, die heutige Version des Holocaust.
Dieser Vergleich ist so irreführend und historisch falsch, daß er schon obszön wird. Im Falle des Holocaust wurden in den von den Nazis besetzten oder beherrschten Gebieten Europas Millionen Juden zusammengetrieben und in Konzentrationslager gebracht, wo ein industriell perfektionierter Massenmord stattfand.
Sechs Millionen wehrlose Juden wurden von den Nazis umgebracht. Dem gegenüber stehen zweitausend Menschen, die laut Angaben des US-Außenministeriums im vergangenen Jahr im Kosovo ermordet wurden. (Die jüngsten Berichte über die Ermordung von 250.000 albanischen Männern sind reine Fälschungen, die von Beobachtern westlicher Zeitungen vor Ort widerlegt wurden.)
Selbst, wenn man die Gesamtzahl der im Kosovo Ermordeten verdoppelt, so wäre der Verlust an Menschenleben im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung immer noch geringer, als in vielen ähnlichen Konflikten rund um die Welt, zum Beispiel in Sri Lanka oder der Türkei. Mit diesem Vergleich soll natürlich keiner Gleichgültigkeit gegenüber dem Leiden im Kosovo das Wort geredet werden. Er zeigt jedoch, wie abwegig die Behauptungen sind, mit denen die NATO die umfassende Bombardierung Jugoslawiens rechtfertigt.
Eine weitere Feststellung zum Hintergrund der Gewalt im Kosovo. Sie begann 1998 mit Ausbruch des Bürgerkriegs zwischen den albanischen Nationalisten mit der separatistischen UCK (Befreiungsarmee des Kosovo) auf der einen und der jugoslawischen Regierung, die die Provinz unter ihrer Kontrolle behalten wollte, auf der anderen Seite.
Das Internationale Komitee der Vierten Internationale ist Gegner jeder Form des Nationalchauvinismus. Wir schwingen uns nicht zum Verteidiger des reaktionären Nationalismus auf, wie ihn das Regime in Belgrad vertritt. Die Darstellung jedoch, als sei die gesamte ethnisch motivierte Gewalt während des Jahres, das der NATO-Offensive voranging, ausschließlich von den Serben angezettelt worden, ist eine eindeutige Verdrehung der politischen Tatsachen. Die UCK - die sich mit Drogengeldern finanzierte und hinter den Kulissen von CIA-Beratern unterstützt wurde - hat ihrerseits eine Terrorkampagne gegen serbische Zivilisten geführt.
Wenn sich die NATO als Verteidiger der albanischen Minderheit gegen die serbische Unterdrückung darstellt, so beinhaltet diese Pose eine gehörige Portion Heuchelei. Man muß sich nur erinnern, wie viele Mitgliedsstaaten der NATO weitaus umfangreichere "ethnische Säuberungen" unterstützt oder sogar selbst durchgeführt haben.
Zweihunderttausend Serben wurden 1995 mit Unterstützung der USA aus Kroatien vertrieben. (Kroatien ist seither zum Bündnispartner der USA und zu einem "Frontstaat" der NATO im Krieg gegen Serbien geworden.) Mehr als eine Million Kurden sind in den letzten fünfzehn Jahren aus ihren Dörfern in der Türkei vertrieben worden, und dies nicht nur mit politischer Unterstützung, sondern unter Einsatz von militärischem Gerät aus den USA. Die Türkei bleibt dennoch NATO-Mitglied und beteiligt sich heute an der Bombardierung Jugoslawiens.
Serbien bleibt bei seinem Rachefeldzug gegen die albanische Bevölkerung weit hinter den Greueltaten zurück, wie sie die Franzosen in Algerien oder die Vereinigten Staaten in Vietnam begingen.
Wenn es politisch opportun gewesen wäre, dann hätten die US-Medien auch die vom Staat Israel betriebene Niederschlagung der Intifada 1987-91, oder die Massaker in Beirut 1982, in nicht weniger flammenden Worten verurteilen können, als die Ereignisse des letzten Jahres im Kosovo.
Wenn man den Vorwurf der "ethnischen Säuberung" abwägt, sollte man auch bedenken, daß die Großmächte mehr als einmal ethnische Konflikte als Rechtfertigung für eine Einmischung der Imperialisten anführten, die dann in die Katastrophe führte. Man erinnere sich, daß es 1947 zu einem der furchtbarsten Ereignisse des zwanzigsten Jahrhunderts kam, nachdem Großbritannien unter Hinweis auf Konflikte zwischen Hindus und Moslems in Indien die Schaffung des eigenständigen Staates Pakistan in die Wege geleitet hatte. Eine Million Menschen kamen bei den folgenden Zusammenstößen ums Leben, zwölf Millionen wurden zu Flüchtlingen.
Auch in Jugoslawien bestand die objektive Folge der imperialistischen Intervention darin, daß die Gewalt zwischen den Volksgruppen angeheizt wurde und die Wahrscheinlichkeit ihres Übergreifens auf Nachbarländer wuchs.
Der Exodus aus dem Kosovo: wer trägt die Verantwortung dafür?
Die NATO behauptet nun, ihre Offensive diene in erster Linie dazu, den schätzungsweise 800.000 albanischen Flüchtlingen die Rückkehr in ihre Heimat Kosovo zu ermöglichen. Dieser Zynismus schlägt alle Rekorde.
Ein ehrlicher Rückblick auf die Ereignisse, die der Flüchtlingskrise vorangingen, widerlegt die Behauptungen der NATO. Die Massenflucht setzte nicht vor dem 24. März ein, sondern danach. In seiner Rede an jenem Tag, in der er die offizielle Kriegsbegründung vorstellte, sprach Clinton fast ausschließlich von der Verhinderung eines Exodus. Er verwies sogar auf die Gefahr, daß die bestehende Flüchtlingspopulation um "Zehntausende" anwachsen könne, falls die NATO nicht angreife.
Was geschah in Wirklichkeit? Die Bombardierung, die einen erheblichen Teil des Kosovo zerstörte und dessen Bewohner in Angst und Schrecken versetzte, löste ein Wiederaufleben der Kämpfe zwischen den Belgrader Truppen und der UCK aus. Nicht Zehntausende, sondern Hunderttausende begaben sich nun auf die Flucht.
Nicht alle diese Folgen waren unbeabsichtigt. Die NATO-Mächte hatten gehofft, daß die Luftoffensive die UCK in die Lage versetzen werde, die serbischen Truppen zu vertreiben, genau wie die Luftschläge in Bosnien 1995 den kroatischen und moslemischen Truppen ermöglicht hatten, in die Offensive zu gehen und die Serben zu vertreiben.
Was die Flüchtlinge anbetrifft, so sind sie in zynischer Manier benutzt worden. Sobald sich die Kosovo-Albaner infolge der Bombardierung auf der Flucht befanden, nutzte die NATO ihr Schicksal aus, um in der Öffentlichkeit Unterstützung für den Krieg zu gewinnen, während sie ihnen gleichzeitig in schludrig errichteten Lagern nur minimale Hilfe angedeihen ließ. Die Bedingungen in den Lagern verschlechterten sich derart, daß es zu Aufständen kam. Selbst danach wurden nur eine Handvoll Flüchtlinge von westlichen Ländern aufgenommen.
Einige Militärführer der NATO haben - wenn ihre Aussagen auch lange Zeit nicht gemeldet wurden - eingestanden, daß ihnen die Entvölkerung des Kosovo durchaus zupaß kam, denn sie hatten dadurch freiere Hand, Flächenbombardierungen vorzunehmen und einen Einmarsch von Bodentruppen in die Provinz vorzubereiten.
Was eine Heimkehr der Flüchtlinge angeht, so stellt sich die offenkundige Frage: Heimkehr wohin? Welche Häuser, Betriebe, Straßen, Brücken und Flüsse sind von der NATO ungeschoren geblieben?
Die politische Funktion der Propaganda
Der Propagandist, schrieb Aldous Huxley 1937, muß die eine Gruppe Menschen vergessen machen, daß die andere Gruppe auch aus Menschen besteht. Die Dämonisierung der Serben im gegenwärtigen Krieg entspricht den Gewalttaten der NATO gegen die jugoslawische Bevölkerung.
Im Frühsommer wird die NATO mehr Menschen umgebracht haben, als die serbische Regierung und die UCK vor dem Eingreifen der Allianz im Kosovo. Die Gesamtzahl der Menschen, die im Kosovo vor dem 24. März während des einjährigen Bürgerkriegs getötet wurden, wird von den meisten Beobachtern auf etwa 2000 geschätzt. Seit dem 24. März beträgt die Anzahl der Serben und Albaner, die von der NATO getötet wurden, bereits deutlich mehr als 1000.
Natürlich unterlaufen der NATO dabei nur "Fehler", während die Serben "Greueltaten" begehen. Allgemein läßt sich sagen, daß die NATO immer dann Plünderungen und Morde der Serben meldet, wenn gerade der Tod von Zivilisten durch NATO-Bomben bewiesen wurde. Und wenn jemand dann vermutet, daß die Medizin der NATO schlimmer sein könnte als die Krankheit, ertönt der schrille Ruf: "Hat man vergessen, wer der wahre Feind ist?"
Eine interessante Frage. Der Begriff "Feind" scheint immer umfassender zu werden. Ursprünglich waren Tod und Leid bei den Kosovo-Albanern ausschließlich auf das Milosevic-Regime zurückgeführt worden. In jüngster Zeit schlägt die Kriegspropaganda jedoch zunehmend bösartigere Töne an: die gesamte serbische Bevölkerung sei schuld.
Dieser neuen Linie zufolge sei die serbische Bevölkerung korrumpiert, stehe dem Leiden der Kosovo-Albaner gleichgültig gegenüber, und sei von einem irrationalen Opfer-Komplex befallen. Zahlreiche NATO-Propagandisten halten eine Bodeninvasion, die Eroberung Belgrads und eine langfristige Besatzung für das einzige Heilmittel. Dies wird dann unter Rückgriff auf die Terminologie des 19. Jahrhunderts als "zivilisatorische Mission" bezeichnet.
Ein imperialistischer Krieg
Die Propaganda verlangt nach Vereinfachung. Sie erfordert, daß die Komplexität großer politischer Konflikte beiseite geschoben und der öffentlichen Meinung eine geladene Frage vorgehalten wird, die nur eine Antwort zuläßt. Im gegenwärtigen Krieg lautet diese Frage: "Muß der ethnischen Säuberung nicht Einhalt geboten werden?"
Diese Simplifizierung versetzt die Medien in die Lage, Jugoslawien anstelle der NATO als den Aggressor darzustellen. Die Allianz hingegen führe im Grunde einen Verteidigungskrieg zugunsten der Kosovo-Albaner. Damit wird die Realität buchstäblich auf den Kopf gestellt.
Um den Charakter eines gegebenen Krieges zu bestimmen, ob er progressiv oder reaktionär ist, darf man nicht selektiv einzelne Greueltaten heranziehen, wie sie in jedem Krieg vorkommen, sondern muß die Klassenstrukturen, die ökonomischen Grundlagen und die weltpolitische Rolle der beteiligten Staaten analysieren. Von diesem ausschlaggebenden Standpunkt her ist der gegenwärtige Krieg der NATO ein imperialistischer Angriffskrieg gegen Jugoslawien.
Die USA und die europäischen Mächte, die den Kern der NATO bilden, machen die fortgeschrittensten kapitalistischen Mächte der Welt aus. Innerhalb jedes einzelnen dieser Länder bringt die staatliche Politik die Interessen des Finanzkapitals zum Ausdruck, gestützt auf die wichtigsten transnationalen Konzerne und Finanzinstitutionen. Der Fortbestand der herrschenden Klasse in diesen Ländern hängt von der Ausdehnung des Kapitalismus in der ganzen Welt ab.
Im wissenschaftlichen Sinne bezeichnet der Begriff Imperialismus ein bestimmtes historisches Stadium in der Entwicklung des Kapitalismus als weltweites Wirtschaftssystem. Er bezeichnet objektive Grundtendenzen des Kapitalismus, die sich an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert herausschälten. Die wichtigsten sind folgende: die Verdrängung des freien Wettbewerbs durch riesige Monopole; die zunehmende Vorherrschaft großer Banken (des Finanzkapitals) über den Weltmarkt; der Drang des Monopol- und Finanzkapitals in jenen Ländern, wo der Kapitalismus am stärksten entwickelt ist (Europa, Nordamerika, Japan), über die nationalen Grenzen hinaus Zugang zu Märkten, Rohstoffen und neuen Arbeitskräften in der ganzen Welt zu suchen.
Der Imperialismus tritt den weniger entwickelten Ländern als Räuber und Parasit gegenüber. Vermittels seiner Hegemonie kann der Imperialismus unter Einsatz der großen Finanzinstitutionen wie dem Internationalen Währungsfonds und der Weltbank kleineren, kreditabhängigen Staaten die Politik diktieren. Vermittels ihrer Vorherrschaft auf dem Weltmarkt drücken die imperialistischen Mächte die Preise für Rohstoffe und halten die kleineren Staaten im Zustand der Armut. Je mehr sich diese Länder verschulden, desto ärmer und abhängiger werden sie.
Und letztlich hängt über den schwächeren Staaten ständig das Damoklesschwert einer möglichen Bombardierung. Ob sie als "aufstrebende Demokratien" bejubelt oder als "Verbrecherstaaten" verteufelt werden, hängt in letzter Analyse davon ab, wie sie sich in die strategischen Pläne des Weltimperialismus einfügen. Der Irak, der während seines Krieges gegen den Iran in den achtziger Jahren von den USA unterstützt wurde, verwandelte sich folgerichtig in ein Angriffsziel, als er Amerikas Streben nach einer stärkeren Kontrolle über die Ölreserven des Nahen Ostens in die Quere geriet.
Dasselbe gilt für Serbien. In den achtziger Jahren ruhte der Blick Washingtons wohlwollend auf Milosevic, weil er eine marktorientierte Politik einführte und die Verstaatlichung der Industrie in Jugoslawien abbaute. In den neunziger Jahren änderten sich die Spielregeln, und Serbien war den imperialistischen Anliegen fortan ein Dorn im Auge. Milosevic wurde neben Saddam Hussein auf die "Fahndungsliste" des Imperialismus gesetzt. Das Urteil des Imperialismus über ein gegebenes Land oder dessen Regierungschef kann sich über Nacht ändern, denn, wie einst Premierminister Palmerston über das britische Empire bemerkte, man hat weder bleibende Freunde noch bleibende Feinde, nur bleibende Interessen.
Jugoslawien ist keine imperialistische Macht, sondern ein kleines, relativ rückständiges Land, das in den neunziger Jahren durch die Abspaltung von vier seiner ehemals sechs Republiken geschwächt wurde. Gewiß, Milosevic hat in diesem Prozeß eine vollkommen reaktionäre Rolle gespielt. Mit der Art und Weise, wie er den serbischen Nationalismus benutzte, konnte er der chauvinistischen Politik Tudjmans in Kroatien, Izetbegovics in Bosnien und Kucans in Slowenien schwerlich etwas entgegensetzen. Doch war Milosevic keineswegs der Anstifter dieser Vorgänge. Er paßte sich, wie so viele lumpige Ex-Stalinisten in Osteuropa, den zentrifugalen Tenenzen an, die durch die Wiedereinführung der Marktwirtschaft in der Gesellschaft entfesselt wurden. Die imperialistischen Mächte spielten dabei eine ausschlaggebende Rolle. Sie forderten die Zerschlagung der verstaatlichten Industrien und eine Kürzungspolitik, mit der die latenten ethnischen Spannungen angefacht wurden. Der wirtschaftliche Druck, der auf Jugoslawien ausgeübt wurde, erzeugte die objektiven Voraussetzungen für die Auflösung des einheitlichen Balkanstaats. Von 1991 an sorgten die größeren Mächte durch ihr direktes Eingreifen für die Aufspaltung Jugoslawiens. Ungeachtet zahlreicher Warnungen vor den gewaltsamen Folgen förderte Deutschland die Zersplitterung, indem es 1991 unvermittelt Kroatien und Slowenien anerkannte. Die USA leisteten dasselbe mit ihrer noch leichtfertigeren Unterstützung für die Lostrennung Bosniens im Jahr 1992.
Überdies ist Jugoslawien kein kapitalistischer Staat, der auch nur auf regionaler Ebene eine größere Rolle spielen würde. Es gibt dort keine transnationalen Großunternehmen. Das jugoslawische Finanzkapital spielt außerhalb der Landesgrenzen keine nennenswerte Rolle. Insofern man überhaupt von einer serbischen Bourgeoisie sprechen kann, so entwickelt sie sich aus den Schichten um Milosevic, die sich im Zuge der Auflösung Jugoslawiens durch den Diebstahl an Staatseigentum bereichert haben.
Die Vergleiche Serbiens mit Nazideutschland und Milosevics mit Hitler sind eine Mischung aus Unwissenheit und Lüge. Eine wissenschaftliche politische Analyse besteht nicht darin, daß man mit Schimpfworten um sich wirft. Die Verwandlung des mit lauter Stimme und Oberlippenbart ausgestatteten österreichischen Gefreiten in die weltweit furchtbarste Verkörperung der Reaktion hing von bestimmten objektiven Voraussetzungen ab - insbesondere von den umfangreichen Mitteln der deutschen Industrie. Hitler war der Führer einer aggressiven imperialistischen Macht, die in ganz Europa die Hegemonie des deutschen Kapitalismus durchsetzen wollte. Bevor Hitlers blutigem Vormarsch Einhalt geboten wurde, erstreckte sich die deutsche Vorherrschaft vom Ärmelkanal bis zum Kaukasus, was den Balkan samt Jugoslawien einschloß. Hitlers militärische Ambitionen widerspiegelten die wirtschaftlichen Appetite von Siemens, Krupp, der IG Farben, Daimler Benz, der Deutschen Bank und anderen deutschen Großkonzernen.
Fände diese Verdrehung der historischen Realität nicht unter derart tragischen Begleitumständen statt, so könnte man über den Vergleich Serbiens mit Nazideutschland und Milosevics mit Hitler nur lachen. Zunächst einmal versucht Serbien nicht, andere Länder zu erobern, sondern ein Gebiet zu behalten, das international als innerhalb seiner Grenzen gelegen anerkannt wird. Und was Milosevic angeht, so versucht dieser "Hitler" vor allem, den von Jahr zu Jahr schrumpfenden Überrest einer Föderation zu retten.
Zusammenfassend muß man sagen, daß hier eine Koalition imperialistischer Großmächte Krieg gegen ein kleines, einigermaßen rückständiges Land führt. Der Krieg trägt einen neo-kolonialistischen Charakter, da die jugoslawische Souveränität grob verletzt wird. Sein Ziel ist die Errichtung eines wie auch immer gestalteten NATO-Protektorats über den Kosovo, das wahrscheinlich dem Regime von NATO und IWF ähneln wird, wie es derzeit in Bosnien herrscht.
Jenseits der Propaganda: Weshalb dieser Krieg?
Hat man erst die trügerischen Behauptungen der NATO und die Fälschungen der Medien durchschaut, was bleibt dann? Ein nackter Angriffskrieg mächtiger imperialistischer Länder gegen einen kleinen Bundesstaat, dessen offizielle Gründe nur zu Täuschungszwecken dienen. Ohne die allgegenwärtige hysterische Propaganda wäre es weitaus schwieriger, die Öffentlichkeit davon abzuhalten, die wirklichen Beweggründe zu erforschen, aus denen heraus die imperialistischen Mächte den Weg des Bombardements eingeschlagen haben.
Zu Beginn dieses Jahrhunderts stellte Rosa Luxemburg fest, daß der Kapitalismus die erste Produktionsweise sei, der die Waffe der Massenpropaganda zur Verfügung stehe. Die "Humanität", die er damals verkündete, war genau wie heute ein Deckmantel für die gewaltsame Aneignung dessen, was man aus den schwächeren Ländern herausholen wollte. Die "zivilisatorische Mission" der USA, Englands, Frankreichs, Belgiens und Hollands diente der Erlangung wertvoller Rohmaterialien, wichtiger Märkte und geopolitischer Vorteile gegenüber ihren Rivalen. Auch der heutige Angriff auf Jugoslawien dient den materiellen Interessen der imperialistischen Mächte.
Als ersten Appetitanreger sehen die westlichen Mächte die reichhaltigen Mineralienvorkommen des Kosovo selbst, wo man Blei, Zink, Cadmium, Silber und Gold in großen Mengen findet. Auch rund 17 Milliarden Tonnen Kohle liegen im Kosovo. Doch das sind nur Kleinigkeiten in den Kalkulationen der Imperialisten. Die unmittelbaren materiellen Vorteile, die eine Ausplünderung des Kosovo verspricht, verblassen gegenüber dem weitaus größeren Bereicherungspotential, das in weiter östlich gelegenen Regionen winkt, an denen die NATO-Mächte über die letzten fünf Jahre hinweg ein immenses Interesse entwickelt haben. Es ist erstaunlich, daß den weltstrategischen Ambitionen der USA und der übrigen Mächte im Zusammenhang mit diesem Krieg bisher so wenig Aufmerksamkeit gezollt wurde.
Die NATO und der Zusammenbruch der UdSSR
Mit der Entstehung des Imperialismus zum Ende des letzten Jahrhunderts versuchten die wichtigsten Mächte, die Welt untereinander aufzuteilen. Die Auflösung der UdSSR hat ein Machtvakuum in Osteuropa, Rußland und Zentralasien hinterlassen, das eine abermalige Aufteilung der Welt unvermeidlich macht. Die Bedeutung Jugoslawiens liegt nun darin, daß es vom Westen aus gesehen am Rande eines riesigen Gebiets liegt, in das die wichtigsten Weltmächte vordringen wollen. Die USA, Deutschland, Japan, Frankreich, Großbritannien und die übrigen Mächte können es sich einfach nicht leisten, der Öffnung dieses Gebiets passiv zuzuschauen. Es beginnt ein Kampf um den Zugang zu der gesamten Region und um die Kontrolle über ihre Rohstoffe, ihre Arbeitskräfte und ihre Märkte. Der "Kampf um Afrika" des vergangenen Jahrhunderts wird sich dagegen geradezu harmlos ausnehmen.
In diesem Prozeß schlagen sich grundlegende Erfordernisse des Profitsystems nieder. Die heutigen transnationalen Unternehmen messen ihren Erfolg in weltweiten Maßstäben. General Motors, Toyota, Lockheed Martin, Airbus oder auch Coca Cola können keinen Markt der Welt vernachlässigen. Diese riesenhaften Firmen operieren über Kontinente hinweg, um sich die Marktführerschaft zu erhalten. Das Eindringen in ein Gebiet, das ein Sechstel der Erdoberfläche ausmacht und nun der kapitalistischen Ausbeutung offensteht, ist für sie eine Überlebensfrage.
Die Integration dieser Region in das weltweite System der kapitalistischen Produktion und des Austauschs ist heute die wichtigste Herausforderung, vor der die internationale Bourgeoisie steht. Sie ist die Voraussetzung für den Fortbestand des Kapitalismus im 21. Jahrhundert. Man muß sich nur die Frage vorlegen: Wenn der Kapitalismus schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Welt aufteilen und organisieren mußte, wie notwendig ist dies dann erst heute, da sämtliche wichtigen Konzerne global operieren?
Die Vereinigten Staaten gehen am aggressivsten vor, um die Auflösung der UdSSR auszunutzen. Zum Teil erklärt sich dies daraus, daß die Existenz der Sowjetunion den USA bestimmte historische Schranken auferlegt hatte. Der Aufstieg des amerikanischen Imperialismus vollzog sich relativ spät, während des Ersten Weltkriegs. In eben jenem Jahr - 1917 -, in dem die USA in den Krieg eintraten, schuf der Sieg der Oktoberrevolution in Rußland die Voraussetzungen für die Gründung der Sowjetunion. Sieben Jahrzehnte lang entzog dann die bloße Existenz der UdSSR einen großer Teil der Erde der direkten Ausbeutung des US-Kapitalismus.
Die Forderung des US-Kapitals, Zugang zu diesem Gebiet zu gewinnen, zu seinen Rohmaterialien und Arbeitskräften, das Entgangene zurückzuholen, bildete den wesentlichen Inhalt des Kalten Krieges von Seiten Washingtons. Der Kampf gegen die "kommunistische Expansion" war, wenn man einmal von allen Übertreibungen und Verdrehungen absieht, das unablässige Streben, die Reichweite der US-Banken und Konzerne nach Osteuropa und Rußland hinein zu verlängern, um dort Profite zu machen. Die Ereignisse von 1989-91 haben dem US-Kapitalismus in dieser Region freie Hand verschafft.
Bei der abermaligen Integration des Gebiets der ehemaligen UdSSR in den Weltkapitalismus geht es darum, daß sich die großen transnationalen Konzerne aus dem Westen Werte in Billionenhöhe einverleiben, bestehend aus Rohstoffen, die für die imperialistischen Mächte unverzichtbar sind. In den früheren Sowjetrepubliken am Kaspischen Meer (Aserbeidschan, Kasachstan, Turkmenistan) werden die größten unerschlossenen Ölreserven der Welt ausgemacht. Diese Ressourcen werden jetzt unter den wichtigsten kapitalistischen Ländern aufgeteilt. Das ist es, was den wiedererwachenden Militarismus befeuert und zwangsläufig zu neuen Eroberungskriegen der imperialistischen Mächte gegen Gegner vor Ort sowie zu immer stärkeren Konflikten unter den Imperialisten selbst führen muß.
Hier liegt der Schlüssel zum Verständnis der kriegslüsternen US-Außenpolitik während der vergangenen zehn Jahre. Die Bombardierung Jugoslawiens schließt sich an eine ganze Serie von Angriffskriegen rund um die Welt an. Obwohl jeweils gewisse regionale Erwägungen eine Rolle spielten, bildeten diese Kriege doch insgesamt gesehen die Antwort der USA auf die Möglichkeiten und Herausforderungen, die sich mit dem Ende der UdSSR auftaten. Washington betrachtet seine militärische Stärke als Trumpf und spielt sie aus, um sich im kommenden Kampf um Ressourcen gegen alle seine Rivalen durchzusetzen.
Das kaspische Öl und die neue Debatte um die Außenpolitik
"Die kaspische Region bildet eines der größten noch verbliebenen potentiellen unerschlossenen Öl- und Gasressourcen der Welt", erklärte ein Exxon-Vorstandsmitglied 1998. Im Jahr 2020 könnten in dem Gebiet vielleicht bis zu 6 Millionen Barrel Öl pro Tag gefördert werden. Er erwartet, daß die Ölindustrie bis dahin 300 bis 500 Milliarden Dollar in die Erschließung investieren werde. Das US-Energieministerium schätzt die Vorkommen auf 163 Milliarden Barrel Öl und entsprechend riesige Erdgasvorkommen. Sollten sich diese Schätzungen bestätigen, so wird die Region ein Erdölproduzent von der Größe des Iran oder Irak werden.
Fachleute aus dem Westen rechnen außerdem damit, daß in der kaspischen Region künftig bedeutende Goldvorkommen gefördert werden. Kasachstan soll mit 10.000 Tonnen über die zweitgrößten Ressourcen der Welt verfügen. Bergbauunternehmen aus den USA, Japan, Kanada, Großbritannien, Australien, Neuseeland und Israel sind bereits in der Region aktiv.
Jedes große kapitalistische Land und auch eine Reihe aufstrebender Regionalmächte haben ein Auge auf diese Ressourcen geworfen. Die kapitalistischen Mächte sind sich klar bewußt, daß sie ihrem Einfluß und ihren Interessen auf Kosten ihrer Rivalen Geltung verschaffen müssen. Diese Notwendigkeit wird in den einschlägigen politischen Zeitschriften, Anhörungen und Expertisen immer deutlicher ausgesprochen.
Die Debatte innerhalb der amerikanischen herrschenden Elite ist in dieser Hinsicht am aufschlußreichsten und verheißt nichts Gutes. Seit 1991 findet unter den bekannten US-Strategen eine unverblümte Diskussion über den neuen Platz ihres Landes in der Weltgeschichte statt. In Abwesenheit der Sowjetunion, so schlossen viele, finden sich die USA nun als Herr über eine neue "unipolare" Welt wieder, in der sie, zumindest vorerst, die unangreifbare Vorherrschaft ausüben. Die Debatte unter diesen Strategen dreht sich nicht darum ob, sondern auf welche Weise dieser Vorteil zum Tragen gebracht werden kann.
Bemerkenswert ist ein Artikel von Zbigniew Brzezinski, dem ehemaligen obersten nationalen Sicherheitsberater unter Präsident Carter, der in der Zeitschrift Foreign Affairs vom September/Oktober 1997 erschien. Er trägt die Überschrift "Eine Geostrategie für Asien".
"Es ist unwahrscheinlich, daß im Verlauf der nächsten Generation, selbst darüber hinaus Amerikas Status als führende Weltmacht von einem einzelnen Herausforderer angefochten werden wird", schreibt Brzezinski. "Kein Staat kann es in den vier Schlüsseldimensionen der Macht, die weltpolitisches Gewicht verleihen - der militärischen, der wirtschaftlichen, der technologischen und der kulturellen - mit den Vereinigten Staaten aufnehmen."
Nachdem die USA in der westlichen Hemisphäre ihre Macht gefestigt hätten, so Brzezinski, müßten sie nun energisch versuchen, die Kontinente Europa und Asien zu durchdringen.
"Amerikas Herausbildung als die einzige globale Supermacht verlangt nun zwingend eine durchdachte und konsequente Strategie für Eurasien."
"Nach den Vereinigten Staaten", schreibt Brzezinski, "findet man dort die sechs Länder mit den nächst größten Wirtschaften und Militärhaushalten, außerdem bis auf eine Ausnahme sämtliche offenen Atommächte der Welt. Eurasien stellt 75 Prozent der Weltbevölkerung, 60 Prozent des weltweiten Bruttosozialprodukts und 75 Prozent der Weltenergiereserven. Zusammengenommen übersteigt die potentielle Macht Eurasiens selbst jene Amerikas.
Eurasien ist der zentrale Superkontinent der Welt. Eine Macht, die Eurasien beherrscht, würde entscheidenden Einfluß auf zwei der drei wirtschaftlich produktivsten Regionen der Welt, Westeuropa und Ostasien ausüben. Ein Blick auf die Landkarte belehrt uns außerdem, daß ein in Eurasien vorherrschendes Land beinahe automatisch auch den Nahen Osten und Afrika kontrollieren würde.
Da Eurasien heute das wichtigste geopolitische Schachbrett bildet, kann es nicht länger angehen, eine Politik für Europa und eine andere Politik für Asien zu entwerfen. Die Machtverteilung auf der eurasischen Landmasse wird den Ausschlag geben über Amerikas globale Führungsrolle und historisches Vermächtnis."
Da Brzezinski nicht davon ausgeht, daß die USA Eurasien ganz allein sozusagen mit links werden beherrschen können, sieht er ihre Interessen am besten dadurch gewahrt, daß sie sich eine führende Rolle sichern und für eine sie begünstigende Machtbalance unter den größeren Mächten sorgen. Allerdings äußert er einen wichtigen Vorbehalt: "Angesichts der Instabilität Eurasiens muß unmittelbar gewährleistet werden, daß kein Staat und keine Verbindung von Staaten die Fähigkeit erlangen, die Vereinigten Staaten zu verdrängen oder auch nur ihre entscheidende Rolle zu schmälern." Diesen Zustand bezeichnet er als "segensreiche amerikanische Hegemonie".
Als bestes Mittel zu deren Herbeiführung erachtet Brzezinski die NATO: "Im Unterschied zu Amerikas Verbindungen zu Japan festigt die NATO den politischen Einfluß und die militärische Macht Amerikas auf dem eurasischen Festland. Da die alliierten europäischen Nationen immer noch stark vom Schutz der USA abhängen, bedeutet jede Ausweitung der politischen Reichweite Europas automatisch eine Ausweitung des US-amerikanischen Einflusses. Umgekehrt hängt die Fähigkeit der USA, Einfluß und Macht auszuüben, von engen transatlantischen Verbindungen ab.
Ein erweitertes Europa und eine vergrößerte NATO dienen den kurz- und langfristigen Interessen der US-Politik. Ein vergrößertes Europa wird die Reichweite des amerikanischen Einflusses erweitern, ohne jedoch zugleich ein derart politisch integriertes Europa zu schaffen, daß dieses den Vereinigten Staaten in geopolitisch wichtigen Fragen, insbesondere im Nahen Osten, tatsächlich entgegentreten könnte."
Diese Zeilen legen nahe, daß die Rolle der NATO in Jugoslawien, wo sie die erste offensive Militäraktion seit ihrer Gründung unternommen hat, in den Regierungskreisen der USA unzweideutig als Stärkung der Weltposition der USA aufgefaßt wird. Gleichzeitig ist die Erweiterung der NATO um Polen, Ungarn und die Tschechische Republik gleichbedeutend mit der Ausdehnung des amerikanischen Einflusses in Europa und der Welt.
Brzezinskis Ansichten über diese Region sind nicht neu. Er hat die traditionelle geopolitische Strategie des britischen Imperialismus für die USA neu aufgelegt und an die heutigen Bedingungen angepaßt. Diese Strategie war stets darauf abgestellt gewesen, die eigenen Interessen in Europa zu sichern, indem man die Rivalen auf dem Kontinent gegeneinander ausspielte.
Die erste moderne "Eurasien-Strategie" zur Weltherrschaft war einst in Großbritannien entstanden. Der Stratege Halford Mackinder vertrat, Brzezinski vorwegnehmend, in einem Papier aus dem Jahre 1904 unter dem Titel "Der geographische Angelpunkt der Geschichte" den Standpunkt, daß die eurasische Landmasse und Afrika, die er unter der gemeinsamen Bezeichnung "Weltinsel" faßte, den Ausschlag über die weltweite Hegemonie gäben. Mackinder zufolge waren die Schranken, insbesondere die beschränkten Transportmöglichkeiten, die frühere Weltreiche verhindert hätten, zu Beginn des 20. Jahrhunderts weitgehend überwunden. Nun sei die Zeit des Kampfs der Großmächte um die Weltherrschaft angebrochen. Der Schlüssel dazu lag Mackinders Meinung zufolge in der Kontrolle über das "Kernland" der eurasischen Landmasse - das grob gesprochen von der Wolga, dem Jangtse, der Arktis und dem Himalaya umgrenzt wurde. Er faßte diese Strategie mit folgenden Worten zusammen: "Wer Osteuropa beherrscht, beherrscht das Kernland; wer das Kernland beherrscht, beherrscht die Weltinsel; wer die Weltinsel beherrscht, beherrscht die Welt."
Ungeachtet solcher Annahmen, die bürgerliche Kommentatoren später kritisierten, wurden Mackinders Schriften ebenso wie heute jene Brzezinskis von den wichtigen Staatsmännern seiner Zeit genau verfolgt und übten erheblichen Einfluß auf die Konflikte zwischen den Großmächten aus, die die erste Hälfte dieses Jahrhunderts prägten.
Aus Gründen sowohl der Weltstrategie als auch der Kontrolle über natürliche Ressourcen sind die USA entschlossen, sich eine Vormachtrolle im ehemaligen sowjetischen Einflußbereich zu sichern. Sollte irgend einer ihrer Gegner - oder ein Zusammenschluß ihrer Gegner - die Vorherrschaft der USA in dieser Region tatsächlich herausfordern, so würden sie damit zugleich die Hegemonialstellung der USA in der Welt in Frage stellen. Darüber ist sich das politische Establishment in den USA völlig im klaren.
Washington entwirft Pläne für seine politische Vorherrschaft über Zentralasien
Der Ausschuß für Internationale Beziehungen des US-Repräsentantenhauses hält seit einiger Zeit Anhörungen über die strategische Bedeutung der kaspischen Region ab. Im Februar 1998 eröffnete Doug Bereuter, der Vorsitzende des Ausschusses, eine Sitzung mit einem Rückblick auf die Konflikte, die im 19. Jahrhundert Zentralasiens wegen zwischen den Großmächten ausgetragen wurden. Man sprach damals vom "großen Spiel".
Im Wettstreit um den Aufbau ihrer Reiche, erklärte Bereuter, führten Rußland und Großbritannien einen langen Kampf um Macht und Einfluß. "Hundert Jahre später", fuhr er fort, "hat der Zusammenbruch der Sowjetunion ein neues großes Spiel ausgelöst, und an die Stelle der Interessen der East India Trading Company sind die Interessen von Unocal und Total sowie zahlreicher weiterer Organisationen und Firmen getreten."
"Die erklärten Ziele der US-Politik hinsichtlich der Energieressourcen dieser Region", so Bereuter weiter, "umfassen die Förderung der Unabhängigkeit der dortigen Staaten sowie deren Verbindungen zum Westen; das Brechen des russischen Monopols über die Transportwege für Öl und Gas; die Förderung der Versorgungssicherheit des Westens durch Diversifizierung der Energieversorger; die Förderung des Baus von Ost-West-Pipelines, die nicht durch den Iran führen; sowie die Abwehr des gefährlichen iranischen Zugriffs auf die zentralasiatischen Ökonomien."
Bereuters Bemerkungen zeigen, daß Washington erhebliche Konflikte mit den Regionalmächten voraussieht. Der Zugang zum kaspischen Öl hat bereits größere Reibungen ausgelöst, sein Transport zu den westlichen Märkten sorgt für noch heftigere Auseinandersetzungen und Manöver.
Während die westlichen Ölkonzerne bereits Förderverträge im Wert von Milliarden Dollars abgeschlossen haben, gibt es noch keine Einigung über den Verlauf der wichtigsten Exportpipeline. Aus den von Bereuter angeführten Erwägungen heraus besteht Washington unnachgiebig auf einer Ost-West-Route, die weder durch den Iran noch durch Rußland führt.
Diese Frage wird von der US-Regierung als Chefsache behandelt. Letzten Herbst erklärte Energieminister Bill Richardson gegenüber Stephen Kinzer von der New York Times: "Wir versuchen diese neuen unabhängigen Länder auf den Westen zuzubewegen. Es wäre uns lieber, wenn sie sich an den wirtschaftlichen und politischen Interessen des Westens orientieren, als daß sie sich in irgend eine andere Richtung entwickeln. Wir haben in die kaspische Region politisch viel investiert, und es ist uns sehr wichtig, daß sowohl der Pipeline-Verlauf als auch die Politik den richtigen Weg nehmen."
Eine Reihe Strategen treten für eine aggressivere Politik der USA in der Region ein. Einer von ihnen, Mortimer Zuckerman, Herausgeber der US News & World Report, warnte in einem Kommentar vom Mai 1999, daß die Ressourcen in Zentralasien doch wieder Rußland oder einem von Rußland geführten Bündnis in die Hände fallen könnten, für ihn ein "Alptraum". Er schreibt: "Wir sollten aufwachen und die Gefahren erkennen, sonst werden eines Tages die Selbstverständlichkeiten, auf denen unser Wohlstand beruht, nicht mehr selbstverständlich sein.
Die Region der russischen Vormacht - die Brücke zwischen Asien und Europa zum Osten der Türkei - enthält mit dem Öl- und Gasreichtum des Kaspischen Meeres, der auf bis zu vier Billionen Dollar geschätzt wird, einen Preis, der Rußland durchaus Wohlstand und strategische Gelegenheiten eröffnen könnte."
Zuckerman schlägt vor, den neuen Konflikt "das größte Spiel" zu nennen. Der Superlativ sei heute angebracht, weil es um "weltweite und nicht nur regionale Konsequenzen geht. Ein Rußland, unter dessen nuklearem Schutz sich ein neues Ölkonsortium unter Beteiligung des Iran und des Irak zusammenfindet, könnte durchaus die Energiepreise derart in die Höhe treiben, daß die Produzenten gestärkt und der Westen, die Türkei, Israel und Saudi Arabien bedroht werden. In den Worten von Paul Michael Wihbey, der für das Institute for Advanced Strategic and Political Studies eine hervorragende Analyse geschrieben hat, würden die alptraumartigen Szenarien aus der Mitte der siebziger Jahre mit neuer Gewalt wieder hervorbrechen."
Der Direktor einer amerikanischen "Denkfabrik" hat die militärischen Implikationen der neu entdeckten Interessen in der Region offen und ungeschminkt dargelegt. In einem Dokument von 1998 wies Frederick Starr, der Leiter des Central Asia-Caucasus Institute der John Hopkins University darauf hin, daß die Hälfte der NATO-Staaten größere ökonomische Interessen in der kaspischen Region verfolgen. "Die potentiellen wirtschaftlichen Erträge der kaspischen Energieträger", fuhr er fort, "werden westliche Militärtruppen nach sich ziehen, um bei Bedarf diese Investitionen zu schützen."
Die Aussicht auf einen militärischen Konflikt zwischen einem oder mehreren NATO-Ländern und Rußland ist nicht aus der Luft gegriffen. Starr schreibt: "Kein Land legt mehr Wert auf eine NATO-Mitgliedschaft als das energiereiche Aserbeidschan, und nirgendwo ist die Wahrscheinlichkeit eines Konflikts mit der Russischen Föderation größer, als hinsichtlich des Exports der aserischen Ressourcen." Im Jahr 1998 beteiligte sich das Land an sämtlichen 144 Übungsmanövern der NATO-"Partnerschaft für den Frieden".
Die Rechtfertigung für die heutige Kriegsführung gegen Jugoslawien könnte leicht wiederverwendet werden, sollten sich die herrschenden Kreise der USA zu einem militärischen Eingreifen in Zentralasien entschließen. In beinahe jedem Land dort gibt es ethnische Konflikte. Die drei Länder, durch die Washington die wichtigste Exportpipeline für Öl führen will, sind dafür die besten Beispiele. In Aserbeidschan tobt seit mehr als einem Jahrzehnt ein militärischer Konflikt mit der armenischen Bevölkerung. In dem benachbarten Georgien flammen immer wieder Kämpfe zwischen der Regierung und einer separatistischen Bewegung in Abchasien auf. Die Türkei schließlich, in der das Terminal der Pipeline liegen soll, führt seit langem einen Unterdrückungsfeldzug gegen die kurdische Minderheit, die ausgerechnet in jenen Gebieten im Südosten des Landes lebt, durch welche die von den USA favorisierte Pipeline führen soll.
Die gegenwärtige US-Regierung weiß sehr wohl um diese Zusammenhänge. In einer Rede vor Chefredakteuren wichtiger Zeitungen erklärte Clinton vergangenen Monat, die ethnischen Unruhen in Jugoslawien seien durchaus kein Einzelfall. "Ein Großteil der früheren Sowjetunion steht vor ähnlichen Herausforderungen", meinte er, "darunter die Ukraine und Moldawien, Südrußland, die Kaukasusnationen Georgien, Armenien und Aserbeidschan, sowie die neuen Nationen Zentralasiens." Mit der Öffnung dieser Regionen, vermerkte er, "wurde das Potential ethnischer Konflikte zur vielleicht größten Bedrohung unseres wichtigsten Anliegens: dem Übergang der einstmals kommunistischen Länder zu Stabilität, Wohlstand und Freiheit."
Eine Reihe von Kriegen stehen bevor
Doch die aggressive Haltung der USA hinsichtlich der Intervention in Jugoslawien und die Aussicht auf ein künftiges amerikanisches Vorpreschen in der kaspischen Region werden in anderen Teilen der Welt nicht gleichgültig hingenommen werden.
Das Potential für einen Konflikt mit Rußland, soviel sollte jetzt klar sein, ist in den vergangenen zehn Jahren gewachsen. Dasselbe gilt für die Wahrscheinlichkeit eines größeren Zusammenstoßes zwischen den USA und einer oder mehreren europäischen Mächten. Die europäische Bourgeoisie wird sich nicht auf ewig mit der Unterordnung unter die USA abfinden. Je mehr die USA auf ihren Vorteil bedacht sind, desto stärker wird ihre Stellung unterhöhlt. Die Aufteilung der Beute aus Zentralasien und Osteuropa unter die USA, Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Italien wird unweigerlich Konflikte auslösen.
Kommentatoren und Politiker in Europa protestieren bereits gegen die zunehmende Einmischung der USA in die europäischen Sicherheitsangelegenheiten und deren Drängen auf die Erweiterung der NATO. Wie werden sie Pläne der USA auffassen, wie sie Brzezinski umreißt, die auf eine massive Ausweitung der US-Macht in Europa und Asien hinauslaufen?
Die Spannungen sind bereits sehr deutlich. Die militärische Intervention in Jugoslawien platzte mitten in seit Jahresfrist zunehmende transatlantische Handelsstreitigkeiten. Die europäischen Mächte suchen darüber hinaus bereits seit langem nach Mitteln und Wegen, die Hegemonialrolle der USA im Welthandel zu unterlaufen. Diesem Ziel dient die Währungsunion und die Einführung des Euro, der dem Dollar als internationale Reservewährung den Rang streitig machen soll. Darüber hinaus hat die Führungsmacht der Europäischen Währungsunion, Deutschland, erhebliche Wirtschaftsinteressen in Osteuropa und Rußland. Die Aussicht auf einen Konflikt zwischen den USA und Rußland sowie die Instabilität in Moskau bedrohen seine Position.
Auch werden neue Konflikte zwischen den USA und Japan ausbrechen. Die Inselnation, die große Mengen Öl importiert, verfolgt ihre eigenen Interessen in der kaspischen Region und ficht reichlich Handelskonflikte mit den USA aus. In dem Maße, wie die USA eine größere militärische Rolle als Schlüssel zum Erfolg in Zentralasien auffassen, werden auch die herrschenden Kreise in Japan fordern, daß die Nachkriegsbeschränkungen für Größe und Einsatzbereich ihres Militärs aufgehoben werden.
Ein offener Konflikt zwischen den USA und China ist unausweichlich. China, in historischer Hinsicht ein unterdrücktes Land und keine imperialistische Macht, ist dennoch in der Restauration des Kapitalismus weit fortgeschritten und strebt die Rolle einer größeren regionalen Wirtschaftsmacht an.
Wie die gegenwärtige Hysterie gegen China in den amerikanischen Zeitungen zeigt, versucht ein erheblicher Teil der herrschenden Elite Amerikas einer solchen Entwicklung mit aller Kraft entgegenzutreten. Die Ausweitung des US-Einflusses in Zentralasien stellt eine direkte und unmittelbare Bedrohung Chinas dar, da das weitere Wachstum der chinesischen Wirtschaft neben anderen Faktoren direkt von einem stärkeren Zugang zu Petroleum abhängt. Der Ölbedarf Chinas wird sich Fachleuten zufolge bis zum Jahr 2010 beinahe verdoppeln, so daß das Land gezwungen sein wird, 40 Prozent seines Bedarfs zu importieren. Im Jahr 1995 waren es nur 20 Prozent gewesen.
Aus diesem Grund äußerte China bereits Interesse an einer Pipeline, die das kaspische Öl Richtung Osten transportieren würde, und unterzeichnete 1997 ein Abkommen im Wert von 4,3 Milliarden Dollar, um sich einen Anteil an einem Förderprojekt in Kasachstan zu sichern. Die USA werden zweifellos versuchen, die Aktivitäten Chinas in dieser Region zu hintertreiben.
Rund um die Welt befürchten Regierungen, daß sie in Kürze zu den nächsten Opfern militärischer Maßnahmen werden könnten, falls sie sich den Forderungen der USA nicht beugen. Diese Ängste beschränken sich nicht auf die weniger entwickelten Länder, die auf der "Feindesliste" der USA stehen. Man darf sicher sein, daß sich Paris und Berlin große Sorgen um die Absichten der USA bezüglich Europas machen, und daß das Pentagon bereits über Pläne für die Kriegsführung gegen Frankreich und Deutschland verfügt, die jederzeit aus der Schublade gezogen werden können.
Wir führen diese beiden Länder als Beispiele an, um auf einen weiteren wichtigen Aspekt hinzuweisen. Nicht jeder künftige Konflikt, den die USA führen, wird unbedingt so einseitig verlaufen, wie der gegenwärtige. Über kurz oder lang wird sich Washington in einem Krieg mit einem Gegner wiederfinden, der nicht völlig wehrlos ist.
Die zentralasiatische Region, strategisch von entscheidender Bedeutung und reich an natürlichen Rohstoffen, wird bei ihrer erneuten Eingliederung in die Struktur des Weltkapitalismus nicht friedlich unter die wichtigsten imperialistischen Weltmächte aufgeteilt werden. Nach wie vor gilt, was Lenin im Jahr 1915 über die Aufteilung der Kolonialländer unter die imperialistischen Mächte schrieb: "Denn unter dem Kapitalismus ist für die Aufteilung der Interessen- und Einflußsphären, der Kolonien usw. eine andere Grundlage als die Stärke der daran Beteiligten, ihre allgemeinwirtschaftliche, finanzielle, militärische und sonstige Stärke, nicht denkbar. Die Stärke der Beteiligten aber ändert sich ungleichmäßig, denn eine gleichmäßige Entwicklung der einzelnen Unternehmungen, Trusts, Industriezweige und Länder kann es unter dem Kapitalismus nicht geben. Vor einem halben Jahrhundert war Deutschland, wenn man seine kapitalistische Macht mit der des damaligen England vergleicht, eine klägliche Null; ebenso Japan im Vergleich zu Rußland. Ist die Annahme denkbar, daß das Kräfteverhältnis zwischen den imperialistischen Mächten nach zehn, zwanzig Jahren unverändert geblieben sein wird? Das ist absolut undenkbar." (Werke Bd. 22, S. 300f)
Überträgt man Lenins Aussage in die heutige Zeit, indem man die führenden Mächte von 1915 durch die gegenwärtigen ersetzt, so ergibt sich die Frage: Werden die USA, Europa und Japan sich auf friedlichem Wege über Fragen einigen, bei denen es um den Einsatz von Billionen Dollar für Öl und Bauvorhaben, um Handelsabkommen und um die Schaffung neuer Militärabkommen geht? Man kann diese Frage unmöglich bejahen.
Die großen Mächte werden auch versuchen lokale Konflikte auszunutzen. Das Anwachsen lokaler Gegensätze wird mit der Integration Zentralasiens in das globale Produktions- und Handelssystem nicht ab-, sondern zunehmen. Je mehr Geld der Westen in bedeutende Ölprojekte steckt, desto größer wird der Zankapfel regionaler ethnischer Konflikte. Wenn die Kontrolle über ein Gebiet Dollareinnahmen in Milliardenhöhe aus dem Ölexport mit sich bringt, dann werden die Kämpfe härter werden.
Der Konflikt im Gebiet Abchasien in Georgien hat den Bau der Pipeline bereits mehr als einmal unterbrochen. Darüber hinaus ist das Eindringen des westlichen Kapitals mit vom IWF verordneten Austeritätsmaßnahmen einhergegangen. Die damit erfolgten Veränderungen haben die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung Zentralasiens in immer größere Armut gestürzt, während sich einige Wenige bereicherten. Ebenso wie in Rußland kam es auch in den kaukasischen und kaspischen Republiken zur Entstehung einer maßlos reichen, aber schmalen Schicht der "neuen Kasachen", "neuen Aseris", usw., während insgesamt Produktion und Einkommen seit 1991 ständig zurückgingen.
Diese Entwicklungen kündigen eine Neuaufteilung der Welt an, die unter den wichtigsten imperialistischen Mächten und von deren Armeen ausgetragen werden wird. Die kommenden militärischen Konflikte werden in einer Region der Welt stattfinden, die noch explosiver ist, als der Balkan. Sämtliche wichtigen Protagonisten dort verfügen über Atomwaffen, womit die Möglichkeit eines dritten großen imperialistischen Konflikts innerhalb eines Jahrhunderts näherrückt. Er würde weitaus größere Verwüstung hinterlassen und mehr Menschenleben kosten, als die beiden vorigen zusammengenommen.
Die Implikationen der Bombardierung Jugoslawiens
Hierin liegt die Bedeutung der gegenwärtigen Militäraktion gegen Jugoslawien und des allgemeinen Anwachsens des Militarismus. Der Kosovo ist ein Testfall für spätere Kriege auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion.
Zugleich ist dieser Krieg Ausdruck enormer Widersprüche innerhalb der Heimatländer des Imperialismus. Dort wird der Krieg die verborgenen sozialen Spannungen zuspitzen. Das gesamte 20. Jahrhundert hat gezeigt, daß Perioden imperialistischer Raubzüge unweigerlich von einer Verschärfung der sozialen Konflikte in den Zentren des Imperialismus begleitet werden.
Die inneren gesellschaftlichen Strukturen der USA und der Staaten Westeuropas werden von heftigen Klassengegensätzen heimgesucht. In den vergangenen zwei Jahrzehnten kam es zu einer tiefgreifenden materiellen Polarisierung. Eine dünne Schicht genießt einen Reichtum, wie man ihn noch nie zuvor in der Geschichte gesehen hat. Die übrige Bevölkerung lebt in mehr oder weniger belastender ökonomischer Unsicherheit, und zu einem erheblichen Teil in ausgesprochener Bedürftigkeit. Alles deutet auf eine Fortsetzung und sogar Verstärkung dieser Grundtendenz hin.
Diese sozialen Konflikte haben bisher, da sie nicht politisch artikuliert wurden, eine bösartige Form angenommen. Die Vereinigten Staaten etwa vermitteln den Eindruck einer Gesellschaft am Rande des Nervenzusammenbruchs. Das öffentliche Leben wird durch wiederkehrende Gewaltausbrüche von Schulkindern erschüttert, nach denen das ganze Land vor Schrecken wie gelähmt ist. Für diese Ausbrüche gewalttätigen, anti-sozialen Verhaltens finden Regierungsvertreter oder Experten nur äußerst banale Erklärungen. Sie illustrieren jedoch auf ihre Weise die Brutalität, von der das Leben im zeitgenössischen Amerika geprägt wird, und die niedergehaltenen Konflikte, die direkt unter der Oberfläche schwelen.
Hieraus ergibt sich noch eine weitere Motivation für die Bombardierung Jugoslawiens. Der Vater der imperialistischen Politik zum Ende des letzten Jahrhunderts, Cecil Rhodes, stellte einst fest, daß ein aggressiver Militarismus durchaus sozialpsychologischen Nutzen mit sich bringe. Er biete ein Ventil für den sozialen Druck, der sich innerhalb der imperialistischen Länder selbst aufgebaut habe. Abgesehen von ihren direkten und indirekten wirtschaftlichen Interessen im gegenwärtigen Konflikt sieht die amerikanische Bourgeoisie in ihm eine Gelegenheit, angestaute Frustration und Spannungen gegen einen äußeren Feind zu lenken.
Gleichzeitig erkennt sie die Beschränktheit einer solchen Ableitung und arbeitet bereits an einer Umgestaltung ihrer Innenpolitik, um diese mit ihren imperialistischen Ambitionen in Einklang zu bringen. Das Land wird weiterhin zur High-Tech-Festung umgebaut, wobei der Löwenanteil der öffentlichen Ausgaben in Militäraufgaben im Ausland fließt. Die verbliebenen Sozialprogramme werden zunehmend durch nackte innenpolitische Unterdrückungsmaßnahmen ersetzt. Diese grundlegende Orientierung wird von den übrigen größeren imperialistischen Staaten übernommen werden.
Was demokratische Rechte angeht, so sind sie alles andere als gesichert. Im gegenwärtigen Krieg hat die herrschende Elite ihre Haltung zu dieser Frage sehr deutlich gemacht, indem sie die serbischen Fernsehsender bombardierte und drohte, das Internet lahmzulegen. Diese Taten sprechen eine klarere Sprache, als sämtliche offiziellen gesetzlichen Garantien und Feiertagsreden.
Sehr zum Verdruß der Regierungsmitglieder, der Militärführer und der Medien ist die Mehrheit der Bevölkerung in den NATO-Ländern nicht vom Kriegsfieber befallen. Die Hurra-Patrioten von heute findet man hauptsächlich im politischen Establishment. In der breiten Öffentlichkeit herrschen Verwirrung und Beunruhigung vor. Diese Gefühle sind vor allem deshalb noch nicht zu einer organisierten Opposition gegen den Krieg geworden, weil die politischen Organisationen, denen die Menschen bislang vertrauten, sie im Stich gelassen haben.
Der Krieg hat den vollständigen Bankrott etablierter politischen Parteien erwiesen, die sich einst als Vertreter der Arbeiterklasse und des Sozialismus verkauften. Aus den sozialdemokratischen und stalinistischen Parteien sind nicht nur Anhänger, sondern auch Führer des heutigen Krieges hervorgegangen. Erfahrene Beobachter überrascht dies nicht. Diese Organisationen bezeugen bereits seit langem ihre Unterwürfigkeit gegenüber dem Markt und dem Großkapital und sind in den Apparat des Imperialismus integriert worden. Der Krieg zeigte nur nochmals die Vollständigkeit ihrer politischen Fäulnis. Bildeten sie einst ein Hindernis für die politischen und wirtschaftlichen Forderungen des Kapitals, wenn auch keine wirklich sozialistische Alternative zum Imperialismus, so sind sie heute einfach rechte bürgerliche Parteien.
Und noch ein weiteres Merkmal - oder besser eine Lücke - in der politischen Landschaft hat der Krieg beleuchtet: das Fehlen einer gesellschaftskritischen und uneigennützigen Intelligenz. Von Seiten der akademischen Experten hörte man praktisch keine Kritik an den Argumenten und Behauptungen, die zur Rechtfertigung des Krieges angeführt wurden. Sofern man überhaupt abweichende Stimmen aus der Intelligenz vernahm, kamen sie von rechts und forderten in der Regel eine noch aggressivere Politik. Die Tage des Protest, der Teach-Ins auf dem Campus und der beißenden Kritik an den Verlautbarungen des Staates sind - vielleicht sogar aus dem Gedächtnis - verschwunden.
Wie konnte es dazu kommen? Sehr lehrreich ist die analoge politische Umwälzung, die sich in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts vollzog. Bei Ausbruch des Krieges 1914 schwenkte eine ganze Schicht der Arbeiterbürokratie und der Sozialdemokratie auf die politische Unterstützung der Bourgeoisie in ihrem jeweiligen Land um. Parteien und politische Führer, die sich zuvor offiziell gegen den imperialistischen Krieg ausgesprochen hatten, ließen ihre vielbeschworenen Prinzipien fallen, stimmten den Kriegskrediten zu und riefen die Arbeiterklasse auf, den Staat zu verteidigen. Die katastrophalen Folgen dieser Entscheidung, für die die europäischen Arbeiter einen hohen Preis bezahlen mußten, sind allseits bekannt.
Lenin sah die materielle Erklärung für dieses Phänomen darin, daß ein Teil der Gewerkschaftsführer und der sozialdemokratischen Politiker vom Imperialismus korrumpiert worden war. Die brutale Ausbeutung der Kolonien und die Plünderung ihrer Ressourcen hatte die europäische Bourgeoisie in die Lage versetzt, den offiziellen Arbeiterführern so viel zuzuschanzen, daß sie sich den Diktaten des Imperialismus beugten.
Ähnlich verhielt es sich in der jüngsten Periode. Eine ganze Schicht jener Leute, die durch die Erfahrungen des Vietnamkriegs, die Ereignisse vom Mai-Juni 1968 in Frankreich und durch die militanten Arbeitskämpfe der späten sechziger und frühen siebziger Jahre radikalisiert worden waren, hat im Verlauf der vergangenen zwei Jahrzehnte ihre Opposition gegen den Imperialismus aufgegeben und sich wieder in das Leben der Mittelklasse eingefügt. Nicht wenige dieser Ex-Radikalen haben ihre materiellen Einkünfte durch den Börsenboom der neunziger Jahre vervielfacht. Das Ergebnis war eine durchgreifende politische Umorientierung. Einige der hitzigsten Befürworter des gegenwärtigen Kriegs stammen aus eben dieser Schicht.
Die Bereicherung beschränkte sich natürlich nicht auf jene, die früher in der radikalen Politik aktiv gewesen waren. Wie bereits oben gesagt, häufte eine Schicht Vermögen an, die zwar im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung gering ist, aber dennoch eine beträchtliche Anzahl Personen umfaßt. Ein Prozent der US-Bevölkerung verfügt über vierzig Prozent des Gesamtvermögens. Dieses Verhältnis widerspiegelt den astronomischen Lebensstandard von mehr als zweieinhalb Millionen Menschen. Darunter befinden sich weitere zehn bis zwanzig Prozent der Bevölkerung, die in den vergangenen zwanzig Jahren eine deutliche Steigerung ihres Vermögens verzeichnen konnten. Ähnliche Zahlen könnte man für die übrigen wichtigen kapitalistischen Länder anführen.
Aus dieser reichen Schicht stammt das politische Führungspersonal sämtlicher politischer Parteien, der Medien, und kein geringer Teil der Akademiker. Die Anhäufung von Reichtum ist der politische Zement, der die Kriegstreiber zusammenhält und unter der herrschenden Elite zu Rufen nach einer Ausweitung des Krieges führt.
Doch der Boom an der Wall Street hat zwei Seiten. Um die Aktienkurse nach oben zu treiben, mußten drastische soziale Kürzungen, "Flexibilität [sprich Unsicherheit] auf dem Arbeitsmarkt" und eine gesteigerte Ausbeutung der arbeitenden Bevölkerung in den imperialistischen Zentren und weltweit durchgesetzt werden. Genau wie die Erzeugung der Neureichen in den achtziger und neunziger Jahren eine neue soziale Basis für den Imperialismus schuf, so brachte sie auch ein stark vergrößertes Publikum für eine antikapitalistische, anti-imperialistische Bewegung in der internationalen Arbeiterklasse hervor. Das Wachstum des Weltproletariats, die Absenkung des Lebensstandards für die Mehrheit in den fortgeschrittenen Ländern, und die verschlechterten Zukunftsaussichten für Jugendliche führen objektiv zu einer Bewegung für eine revolutionäre Umwandlung der Gesellschaft.
Die Zeit ist reif, um dieses objektive Potential in eine bewußte politische Kraft zu verwandeln. Notwendig ist heute in erster Linie der Kampf für den Sozialismus unter Arbeitern, Intellektuellen und Jugendlichen, die den Kern einer solchen revolutionären Bewegung bilden werden. Die Verwechslung des Marxismus mit seiner reaktionären Antithese, dem Stalinismus, muß durch politische Erziehungsarbeit aus der Welt geschafft werden. Notwendig ist ein Kampf gegen alle anderen Ideologien, die direkt oder indirekt auf den Erhalt des gegenwärtigen Systems ausgerichtet sind. Zusammenfließen muß all dies im Aufbau einer gemeinsamen sozialistischen Partei der internationalen Arbeiterklasse. An diesem Ziel arbeitet das World Socialist Web Site, das Organ des Internationalen Komitees der Vierten Internationale.