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Die Wende der Grünen in der Sozialpolitik

Von Ludwig Niethammer
30. Juni 1999

Für viele kam die Unterstützung der Grünen für den ersten deutschen Kriegseinsatz nach dem Zweiten Weltkrieg wie aus heiterem Himmel. Daß die grüne Leitfigur Joschka Fischer ohne jede Skrupel die verheerenden Bombardierungen der Nato gegen Jugoslawien begrüßte, mag einige nicht verwundert haben. Daß aber auf dem Bielefelder Sonderparteitag die grünen Delegierten den Kriegskurs ihres Außenministers absegneten und zur offiziellen Parteipolitik erhoben, ernüchterte hingegen viele.

Doch die Abkehr der Grünen von ihren ehemals anti-militaristischen und pazifistischen Auffassungen hin zu einer aktiven Kriegspartei geht einher mit einer generellen Verwandlung dieser Partei. Am krassesten äußert sich dies gegenwärtig in ihrer Sozialpolitik. Kaum hatte der neue Finanzminister Eichel sein 30 Milliarden Sparprogramm angekündigt und damit ein abruptes Ende der Politik des sozialen Ausgleichs eingeleitet, jubilierten die grünen Haushaltspolitiker. Jetzt komme es nur noch darauf an, zu verhindern, daß die SPD unter dem zu erwartenden Protest einknicke, tönte Oswald Metzger, der haushaltspolitische Sprecher der Grünen im Bundestag.

Metzger im Originalton: "Ich bin überrascht und hätte ihm [Eichel] nicht zugetraut, daß er sein sehr ehrgeiziges Ziel erreicht. Wir werden jetzt die Dinge machen müssen, die viele in der Bevölkerung erahnen." Das Sparprogramm der nächsten Wochen werde nicht unumstritten sein. Auch Betroffene wie Rentner, Arbeitslose und Familien mit Kindern würden "aufschreien".

16 Jahre lang protestierten die Grünen gegen den Sozialabbau der Kohl-Regierung. Auch die Sozialpolitik der SPD-regierten Länder und Kommunen kritisierten sie oft, zumindest wenn sie nicht selbst in Regierungsgeschäfte eingebunden waren. Diese Episode ist nun aus und vorbei. In allen Fragen der Sozial-, Steuer- oder Wirtschaftspolitik findet man die Grünen am rechten, neoliberalen Rand der Regierungskoalition.

Ein Papier unter dem Titel "Initiative für Investitionen, Arbeit und Umwelt", das die Bundestagsfraktion Bündnis90/Die Grünen am 23. März dieses Jahres beschloß, schreibt diesen Kurs fest. Darin heißt es zu Beginn zwar noch: "Die Wählerinnen und Wähler haben der rot-grünen Regierung einen klaren gemeinsamen Auftrag gegeben. Sie wurde gewählt, um die Arbeitslosigkeit erfolgreich zu bekämpfen, den Reformstau aufzulösen, um die ökologischen Herausforderungen entschlossen anzugehen und schließlich, um gegen die soziale Kälte von CDU und FDP Gerechtigkeit neu zu gründen."

Bei genauerer Betrachtung liest sich dieses Papier jedoch wie eine Wunschliste aus Henkels Unternehmerverband. Die Koalitionsregierung habe jetzt eine zweite Chance erhalten (gemeint ist Lafontaines Rücktritt), um "Nachfragepolitik und Angebotspolitik in ein vernünftiges Verhältnis zu setzen". Und weiter: "Wir verstehen uns als Reformmotor des notwendigen Strukturwandels. Wir wollen auch die Perspektive zukünftiger Generationen bei Fragen der Ökologie, der Rentenreform und der Staatsverschuldung in das Blickfeld der heutigen Reformpolitik rücken. Das sind unbequeme Fragen, denen wir uns nicht verschließen wollen."

Was die grüne Bundestagsfraktion unter Wandel und Reformpolitik konkret versteht, wird in einem Kapitel unter der Überschrift "Verbesserung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für Investitionen" beschrieben. Darin wird eine zügige Umsetzung einer Unternehmenssteuerreform angemahnt.

Nur durch eine weitere Senkung des Spitzensteuersatzes könne "ein positives wirtschaftliches Signal" gesetzt werden, damit die "Unternehmensvertreter den Standort positiv bewerten" Um Existenzgründungen zu erleichtern und mittelständische Betriebe zu fördern, müsse ein "privater Risikokapitalmarkt" aufgebaut werden.

Wie das Credo des ganzen Positionspapiers liest sich die Formulierung in Bezug auf die Steuerreform: "...wir wollen, daß vor allem Unternehmer die Hauptgewinner der Reform sind."

Der gesamte öffentliche Sektor mit seinen schwerfälligen Verwaltungen müsse für die Privatwirtschaft zugänglich gemacht und die öffentliche Verwaltung zum "modernen dienstleistungsorientierten" Betrieb reformiert werden. Der alten Bundesregierung wird vorgeworfen, sie habe "keine wirkliche Angebotspolitik gemacht".

Das Kapitel "Neue Impulse für den Arbeitsmarkt" beginnt mit der Forderung nach Senkung der Sozialbeiträge durch eine Renten- und Gesundheitsreform sowie einer Ökosteuer. Dies sei ein "belebendes Argument". Wohl wahr! Allerdings nur für Unternehmer, deren Lohnnebenkosten damit erheblich gesenkt werden. Den Rentnern dagegen wird die Rente gekürzt, die Kranken werden in Zukunft noch stärker zuzahlen müssen, und die Ökosteuer erweist sich als nichts anderes, als eine neue Massensteuer, von der die Betriebe weitestgehend ausgenommen sind.

Was dann unter dem Stichwort "intelligentere Arbeit" an verschiedenen Formen von flexibler Arbeit gefordert wird, kommt einer kompletten Auflösung aller bisher noch gesicherten Arbeitsverhältnisse gleich. Dazu heißt es: "Wir brauchen eine Teilzeitoffensive in allen Bereichen der Wirtschaft." Das "Bündnis für Arbeit" solle verstärkt Arbeitszeitkonten, "Jobrotation", und "Jobsharing" vorantreiben. "Vor allem im Dienstleistungsbereich können neue Arbeitsplätze erschlossen werden, und zwar zwischen Einkommen von 630,- DM (Teilzeitmauer) und 1250,- DM (Steuergrenze)".

Den Millionen von Langzeitarbeitslosen bieten die Grünen eine staatlich subventionierte Zwangsarbeit an. Dazu sei ein neu zu schaffender Niedriglohnsektor zu erproben.

Lapidar und zynisch heißt es dazu: "Deshalb halten wir es für sinnvoll, wenn der Verdienst von Langzeitarbeitslosen, die eine Arbeit aufnehmen, ein Jahr lang nur zur Hälfte auf die Arbeitslosen und Sozialhilfe angerechnet wird. Das spart Kosten, hilft den Menschen und reduziert den Zwang zur Flucht in die Schwarzarbeit. Wir wollen die Grenzen zwischen Nichterwerbstätigkeit und Erwerbstätigkeit fließender machen. Diesen neuen Angeboten für Arbeitslose werden aber auch Pflichten gegenüberstehen, die Angebote anzunehmen."

Unter der Überschrift "Auch Grüne entdecken ‚Drückeberger‘- Fraktion erwägt Modellversuche zum Thema Niedriglöhne und Arbeitslosigkeit" greift Rolf Dietrich Schwartz in der Frankfurter Rundschau(29. Juni 1999) diese Frage auf und berichtet, daß unter Leitung des Fraktionsvorsitzenden Rezzo Schlauch "Vorschläge über die Erprobung von Lohnsubventionen für Geringqualifizierte in vier Modellversuchen" ausgearbeitet seien und diskutiert würden.

"Zum ersten Male greifen die Bündnisgrünen in dem Papier die bisher nur von der Wirtschaft und der FDP vertretene These der ‚Drückebergerei‘ unter den Arbeitslosen auf. Es gäbe ‘Anzeichen dafür, daß es für einen Teil der Arbeitslosen vernünftig erscheint, im Transferbezug zu verharren und sich gegebenenfalls eine ergänzende, geringfügige Beschäftigung zu suchen...‘"

Dann folgt eine Darstellung verschiedener Modelle von Niedriglöhnen und Teilzeitarbeit. "Ein drittes Modell zur ‘Modernisierung der Arbeitsvermittlung' sieht vor, private Agenturen einzuschalten, die offene Stellen für Bezieher von Sozial- und Arbeitslosenhilfe vermitteln und dafür pro Vermitteltem 4000 Mark erhalten sollen. Schließlich soll das brachliegende Beschäftigungspotential im Dienstleistungssektor durch Freistellung der Einkommen unterhalb des Existenzminimums von Sozialabgaben ‚aktiviert' werden."

Wohin derartige Maßnahmen führen, ist unschwer abzusehen. Die Massenarbeitslosigkeit wird benutzt, um das bisherige Sozialgefüge aufzubrechen, während gleichzeitig private Arbeitsvermittler sich durch die Not der Arbeitslosen eine goldene Nase verdienen.

Schon die Renten- und Gesundheitsreform, die mittlerweile weitgehend vom Kabinett beschlossen wurde, und einen tiefen Einschnitt ins soziale Netz einleitet, wurde nicht nur von der grünen Fraktion unterstützt, sondern auch in weiten Teilen von ihren Experten und Ministern ausgearbeitet. Vieles, wie z.B. die private Altersvorsorge, die Arbeitsminister Walter Riester einführen will, nun aber vorerst verschieben mußte, wird in dem Papier der Grünen lauthals propagiert. Auch vor einer direkten Einmischung in bestehende Tarifverträge machen die Grünen keinen Halt. Die Aufgabe des "Bündnis für Arbeit" sei es, sich über die "mittelfristigen Eckpunkte der Lohn- und Gehaltsentwicklung zu verständigen".

Dieser Rechtsschwenk der Grünen in ihrer Sozialpolitik vollzieht sich so rasant und gründlich, daß mittlerweile Teile der eigenen Gefolgschaft nicht mehr mitkommen. So hat z.B. der Kreisverband Münster einen Protestbrief an die Bundestagsfraktion geschickt, der für sich spricht: "Wir lehnen diese Pläne aus fachlichen und humanitären Gründe ab. Wir halten es für absolut unzumutbar, Arbeitslose zur Annahme eines unterbezahlten und unqualifizierten Jobs zu zwingen. Die Einführung von Zwangsarbeit entspricht in keiner Weise den Zielen unserer Partei, unter denen individuelle Selbstbestimmungsrechte immer einen hohen Wert gehabt haben, dazu gehört auch das in der Verfassung garantierte Recht der freien Berufswahl. Hier werden die ärmsten der Gesellschaft zu Menschen zweiter Klasse."

Der grüne Kreisvorstand aus Münster kommt dann zu einer vielsagenden Einschätzung: "Wir sind als Realpolitiker daran gewöhnt, daß wir in Koalitionen unsere Ziele nicht immer in gewünschten Maße durchsetzen können. Was hier passiert, ist jedoch etwas neues: Die Bundestagsfraktion hat eine Politik beschlossen, die den Zielsetzungen von Bündnis90/ Die Grünen diametral entgegengesetzt ist. Besonders ärgerlich finden wir es, daß die Bundestagsfraktion hier handstreichartig einen 180-Grad-Wechsel ohne jede Diskussion in der Partei durchpeitscht. Das Papier wurde innerhalb von zwei Wochen im Windschatten des Kosovo-Krieges verabschiedet. Wir sind empört und fühlen uns von unseren Abgeordneten getäuscht."

Derart empörte oder mahnende Stimmen werden bei den Grünen immer seltener und geraten zunehmend unter Druck. Statt dessen hat eine Gruppe, die sich als "Junge" und "Vertreter der zweiten Generation" bezeichnet die Initiative ergriffen und fordert eine "radikale Entrümpelung des Parteiprogramms". Die gegenwärtige Wende der Grünen soll programmatisch festgeschrieben werden. "Die Zeit des Burgfriedens und der Formelkompromisse ist vorbei - es bedarf einer klaren Entscheidung über den richtigen Weg der Partei in die Zukunft. Wir treten dabei ein für eine klare, machtbewußte, pragmatische Positionierung, aber auch für eine teilweise Auswechselung der Mitgliedschaft", heißt es auf den ersten Seiten ihres Thesenpapiers.

Die nahezu atemberaubende Verwandlung der Grünen in allen grundlegenden politischen Fragen hat vielfältige Ursachen. Die gesellschaftliche Schicht, aus der diese Partei vor zwanzig Jahren entstand, hat sich in dieser Zeit sehr grundlegend verändert. Während die Lebens- und Arbeitsbedingungen eines Teils dieser Mittelschicht, ebenso wie für die große Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung immer schwieriger wurden, konnten andere in den vergangenen Jahren beträchtlichen Reichtum anhäufen. Nicht selten ist deren Vermögen direkt mit dem schnell wachsenden Aktienmarkt verbunden.

Ein typischer Vertreter dieser sozialen Schicht ist Oswald Metzger. Er verkörpert die Engstirnigkeit vieler grüner Aufsteiger, die nur noch von ihrer Eitelkeit und Selbstüberschätzung übertroffen wird. Der 45jährige begann seine politische Laufbahn auf der Schwäbischen Alb und war dort in den 70er Jahren einige Jahre Mitglied in der SPD. Als Mitte der 80er Jahre die Grünen bessere Aufstiegschancen boten, wechselte er die Partei. Nach einem abgebrochenen Jurastudium war er zunächst Inhaber eines Schreibbüros. Als Mitglied des Gemeinderats in Bad Schussenried schaffte er es dort bis zum stellvertretenden Bürgermeister, was ihm zusätzlich den lukrativen Posten als Mitglied des Verwaltungsrats der Kreissparkasse Biberach einbrachte. Seit 1994 sitzt Metzger für die Grünen im Bundestag und gehört dort dem wichtigsten Gremium an, dem Haushaltsausschuß. Obwohl er lange Zeit auch innerhalb der Grünen als "Neoliberaler" verschrien war, gibt heute seine wirtschaftsorientierte Linie den Ton an.

Metzger macht keinen Hehl daraus, wessen Interessen er vertritt: "Die Schichten, die wir ansprechen und die mit der Partei inzwischen 18 Jahre älter geworden sind, stehen heute weitgehend in der gutsituierten gesellschaftlichen Mitte." (Spiegel vom 2. 11. 1998)