Humanitäre Katastrophe in Jugoslawien
Ein Interview mit dem Generalsekretär des australischen Roten Kreuzes
Von Mike Head und Michael Conachy
28. Juli 1999
aus dem Englischen (22. Juli 1999)
Infolge der Bombardierung Jugoslawiens durchlebt die Bevölkerung von Serbien eine "dramatisch schlimme" humanitäre Krise, weit schlimmer als jene im Kosovo, so ein hochrangiger Vertreter des Roten Kreuzes. Die Menschen haben keine Arbeit, oftmals kein Trinkwasser und keinen Strom. Ihnen steht im kommenden Winter eine verzweifelte Situation bevor.
Jim Carlton, der Generalsekretär des australischen Roten Kreuzes, erklärte nach seiner Rückkehr von einem Besuch im kriegszerstörten Balkan, der Luftkrieg der NATO habe die Grundindustrie und die Wirtschaft von Jugoslawien verwüstet und weitverbreitete Arbeitslosigkeit hervorgerufen. Schon vorher habe es in Serbien ein ernsthaftes Flüchtlingsproblem gegeben, weil über eine halbe Million Menschen aus anderen Teilen des Balkans vertrieben worden seien.
Carlton reiste letzten Monat nach Belgrad und andere Städte, die von NATO-Bomben getroffen worden waren, darunter Novi Sad und Nis. Er besuchte auch das Kosovo und Flüchtlingslager in Albanien.
"Die Zerstörung von Novi Sad war enorm", sagte er dem World Socialist Web Site. "Ich habe gesprengte Brücken gesehen, eine Ölraffinerie, die nur noch aus Schrott bestand, und die Krankenhäuser und Schulen, in denen Irrläufer eingeschlagen haben.
Es war schaurig. Die Ölraffinerie muß von mindestens 100 Einschlägen getroffen worden sein. Sie besteht nur noch aus geschwärztem und verbogenem Metall - es ist kein Stein mehr auf dem andern. Nach den ersten Wochen der Bombardierungen ging die NATO dazu über, wirtschaftliche Ziele anzugreifen. Die meisten Arbeitsplätze sind vernichtet - das ist nun das Hauptproblem.
Die humanitäre Hilfe, die das Rote Kreuz nach Serbien hineinbringen kann, ist winzig, gemessen an den Bedürfnissen. Der Wiederaufbau der Wirtschaft tut not. Nach ein paar Jahren Wirtschaftssanktionen war sie schon in einem schlimmen Zustand. Nun ist sie kaputt. Viele Orte haben keinen Strom und kein Wasser. Viele Straßen sind betroffen. Wir brauchten wegen der Umleitungen drei Stunden, um von Belgrad nach Novi Sad zu fahren - eine Fahrt, für die man normalerweise eine Stunde braucht.
Eine ungeheure Wiederaufbauarbeit muß bewältigt werden, und gleichzeitig existiert diese enorm hohe Arbeitslosigkeit, was es für die Menschen schwierig macht, zurechtzukommen."
Carlton ließ kaum Zweifel daran, daß die NATO-Bombardierung von Raffinerien, Fabriken und anderen Arbeitsstellen beabsichtigt gewesen war. Er beschrieb die Bombenangriffe als "unglaublich präzise". Er gab ein Beispiel - das Amt für Verteidigung in Belgrad, gegenüber der Geschäftsstelle des Roten Kreuzes. Mehrere Bomben schlugen dort ein. Die Fassade blieb intakt, aber das Innere war nur noch eine geschwärzte Hülle.
Zusätzlich zum wirtschaftlichen Schaden müsse Jugoslawien mit einer halben Million Flüchtlingen aus andern Teilen des Balkans zurechtkommen. Am schlimmsten betroffen seien die Serben, die 1995 aus der Krajina geflüchtet waren, welches heute zu Kroatien gehört. Carlton besuchte eine sogenannte Sammelunterkunft für sie in Novi Sad.
"Ungefähr sechzig Krajina-Flüchtlinge hausen unter erbärmlichen Bedingungen im Gemeindehaus. Sie schlafen in Etagenbetten und haben nicht die geringste Privatsphäre. Es gibt nach hinten hinaus eine kleine Toilettenbaracke im Schlamm, mit zwei Toiletten und einem Duschraum. Die Kochgelegenheiten sind hoffnungslos unzulänglich. Ich wurde stark an einen Besuch erinnert, den ich 1979 bei kambodschanischen Flüchtlingen an der thailändischen Grenze machte.
Sie sind körperlich und psychisch in einer schrecklichen gesundheitlichenVerfassung, und man kann sich kaum vorstellen, wie ihr weiteres Schicksal unter den schwierigen ökonomischen Bedingungen des Landes aussehen soll. Die Unterstützung, die sie von der jugoslawischen Regierung erhalten, beträgt eine Mark pro Tag und Person."
Carlton und das Internationale Rote Kreuz befürchten, daß die westlichen Medien aus politischen Gründen auch in Zukunft das Schicksal der serbischen Bevölkerung und Flüchtlinge ignorieren. Er überließ dem WSWS einen Artikel über die Situation in Serbien, den er für die Melbourner Zeitung Age geschrieben hat, den diese jedoch nicht veröffentlichen wollte.
In diesem Artikel heißt es: "Am Montag besuchte ich Novi Sad, die florierendste Stadt Serbiens. Es ist eine freundliche Stadt, mit starkem ungarischem kulturellem Einfluß und einer beträchtlichen ungarischen Minderheit. Man wird in Australien Fernsehbilder von der Zerstörung der drei Donaubrücken in Novi Sad gesehen haben, wie auch der brennenden Ölraffinerie. Man wird ebenso Bilder von der Zerstörung einer Schule und zwei Wohnhäusern durch Irrläufer gesehen haben. Wie durch ein Wunder wurde niemand getötet.
All diese Plätze habe ich gesehen. Mit dem Verlust der Brücken wurden nicht nur die Transportwege, sondern auch die Wasserzufuhr für ein Drittel der Stadt zerstört. Ich habe die offenen Fähren gesehen, die überfüllt mit bis zu hundert Menschen an Bord im Regen die rasch strömende, breite Donau überquerten, während weitere Hunderte Menschen auf jeder Seite im Regen warteten. Ich fragte mich besorgt, welche Mühsal im kommenden Winter noch auf sie zukommt.
Man schätzt, daß mindestens ein Viertel von Jugoslawiens Stromversorgung im Winter noch nicht wieder hergestellt sein wird, und das in einem Land, in dem ein großer Teil der Wohnhäuser elektrisch beheizt werden. Die Stromknappheit und die Zerstörung eines beträchtlichen Teils der Ölraffinerien und anderer Industrieanlagen haben jetzt schon die Zahl der Arbeitslosen nach oben schnellen lassen, und es gibt wenig Hoffnung auf baldige Besserung.
Diese Beobachtungen macht man nicht nur in Novi Sad, sondern in ganz Serbien, und auch zum großen Teil in der kleineren Teilrepublik Montenegro. Einer humanitären Organisation wie dem Roten Kreuz fällt auf, daß die Opfer dieser schrecklichen Zustände meistens gewöhnliche Menschen sind, die Frieden und Sicherheit für ihr Leben erhoffen und absolut keinen Einfluß auf den politischen Prozeß haben."
Carlton ist pro-serbischer oder linker Neigungen völlig unverdächtig. Er war früher ein führendes Mitglied der australischen Liberalen Partei und fungierte bis zu den Wahlen der heutigen Howard-Regierung als deren Schattenminister. Seine Kommentare widerspiegeln die Befürchtungen des internationalen Roten Kreuzes, das Spenden aufbringen muß, um die Notsituation in den Griff zu bekommen.
Rot-Kreuz-Mitarbeiter blieben während der ganzen Zeit der Bombardierungen in Jugoslawien, obwohl Sorge um ihre Sicherheit bestand, als zwei australische CARE-Mitarbeiter unter dem Vorwurf der Spionage verhaftet wurden. Unter den Rot-Kreuz-Angestellten sind Krankenschwestern, Logisten, Manager für Flüchtlingslager und Ingenieure für Wasserwesen und Sanitäres. Ihre Gegenwart zeigt, daß die Hilfsarbeit während des Kriegs fortgesetzt wurde, entgegen den Behauptungen von CARE, die Verhaftungen hätten es unmöglich gemacht, diese Art von Arbeit aufrechtzuerhalten.
Andere Agenturen, besonders das UN-Hochkommissariat für Flüchtlingsfragen (UNHCR), haben wegen der humanitären Katastrophe in Serbien schon Alarm geschlagen. Das UNHCR geht davon aus, daß seit Ende der 77-tägigen NATO-Bombardierung 172.000 Serben und Roma aus dem Kosovo geflüchtet sind und in Serbien und Montenegro Sicherheit gesucht haben. Sie benötigen dringend Hilfe, wie es in einer Presseerklärung der UNHCR heißt. "Wenn diesen Menschen, von denen vierzig bis fünfzig Prozent Kinder unter 16 Jahren sind, nicht sofort geholfen wird, dann werden sie mit dem Wintereinbruch in eine verzweifelte Lage geraten."
Das UNHCR schätzt, daß 530.000 Flüchtlinge vorher schon aus Kroatien und Bosnien-Herzegowina vertrieben wurden, von denen 40.000 immer noch in überfüllten und verfallenen Sammelunterkünften hausen.
Das UNHCR vermutet, daß serbische Behörden beträchtlichen Druck auf die Flüchtlinge ausüben, damit sie in das Kosovo zurückkehren. Es zitiert serbische Presseberichte, daß Schuldirektoren angewiesen wurden, Kinder aus dem Kosovo nicht einzuschreiben, und daß die Flüchtlinge aus dem Kosovo keine Renten und keine Benzinrationen bekommen.
Gleichzeitig wird die Situation für die nicht-albanischen Minderheiten, die im Kosovo bleiben, laut UNHCR "immer kritischer". Täglich werden Häuser angezündet; ganze Gemeinden von Serben und Roma wurden gezwungen, auszuziehen und bei den NATO-Besatzungstruppen Schutz zu suchen. Bis zu 10.000 serbische Flüchtlinge aus Prizren haben in der Region Strpce Schutz gesucht.
Währen die meisten westlichen Medien den Blick auf die Rückkehr der albanischen Flüchtlinge in das Kosovo und auf die Entdeckung von Massengräbern und serbischen Kriegsgreueln lenken, wird der mißlichen Lage der NATO-Kriegsopfer im Rest des Landes wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Diese Form der Zensur ist dazu angetan, den zweimonatigen NATO-Krieg zu rechtfertigen und zu suggerieren, daß das serbische Volk nur bekomme, was es verdiene.
Dennoch drängt sich die Schlußfolgerung auf: Unter dem Vorwand, eine humanitäre Katastrophe zu verhindern, haben die US-NATO-Bomben eine geschaffen. In Wirklichkeit haben sie eine ungeheure Tragödie noch verschärft, die schon durch die früheren Konflikte, verursacht durch die Großmächte in Kroatien und Bosnien, entstanden war.