50 Jahre NATO
Die Spannungen im atlantischen Bündnis nehmen zu
Von Peter Schwarz
24. April 1999
Das fünfzigste Jubiläum der Nato, das an diesem Wochenende in Washington begangen wird, sollte eigentlich zu einer pompösen Feier mit Militärparade, Feuerwerk und Showstars werden. Der Sieg im Kalten Krieg - verkörpert durch die Aufnahme der osteuropäischen Mitglieder Polen, Tschechien und Ungarn - sollte zelebriert und ein neues strategisches Konzept verabschiedet werden, das die Rolle der Nato als selbstherrliche Weltpolizei festschreibt.
Daraus ist nichts geworden. Die Festlichkeiten wurden gestrichen und das Strategiepapier auf einige unverbindliche Formeln zurechtgestutzt. Statt dessen findet ein dreitägiges Arbeitstreffen statt, auf dem das weitere Vorgehen im Kosovo-Konflikt diskutiert wird, über das in politischer wie in militärischer Hinsicht schwerwiegende Meinungsverschiedenheiten bestehen.
Rein äußerlich betrachtet hätte der Krieg um den Kosovo den Nato-Feiern nicht unbedingt im Wege stehen müssen, krönt er doch eine Entwicklung, die seit 1991 zielstrebig vorangetrieben wurde: die Verwandlung der Nato aus einem Verteidigungs- in ein Interventionsbündnis, das auf der ganzen Welt die wirtschaftlichen, politischen und geostrategischen Interessen seiner Mitglieder durchsetzt.
Einige Kommentatoren sehen in dieser Verwandlung sogar den eigentlichen Sinn des Kosovo-Krieges. Für die amerikanische Außenministerin Madeleine Albright, meint etwa das Schweizer Wochenblatt Weltwoche, schien "der Fall der abtrünnigen Albanerprovinz... der ideale Anlaß, eine neue Nato nach amerikanischem Vorbild zu modellieren - und das strategische Konzept den reservierten Europäern aufzuzwingen."
Doch selbst wenn dies tatsächlich Albrights Absicht gewesen sein sollte - die lange Dauer des Krieges und die Tatsache, daß kein Ende abzusehen ist, hat tiefe Gegensätze zwischen den Nato-Partnern an die Oberfläche gebracht, die die Zukunft des Bündnisses auf lange Zeit bestimmen werden.
Von ihrer Gründung im April 1949 bis zur Auflösung des Warschauer Pakts im Juli 1991 definierte sich das Selbstverständnis der Nato aus der Konfrontationsstellung mit der Sowjetunion. Die USA dienten als Schutzmacht Westeuropas und gaben innerhalb der Nato den Ton an. Das wurde von den europäischen Regierungen hingenommen - mit Ausnahme Frankreichs, das sich 1966 aus Protest gegen die amerikanische Dominanz aus der militärischen Integration der Nato herauslöste.
Mit der Auflösung des Warschauer Pakts entfiel das europäische Bedürfnis nach amerikanischem Schutz und die Frage nach den Aufgaben und Zielen der Nato stellte sich neu. Im Prinzip standen zwei Wege offen: Der Aufbau eines unabhängigen europäischen Militärbündnisses, was letztlich zur Auflösung der Nato geführt hätte, oder die Verwandlung der Nato in ein globales Interventionsinstrument, unter Beibehaltung der amerikanischen Führungsrolle.
Bereits im November 1991 wurden auf der Konferenz von Rom die Weichen für die zweite Option gestellt. Der Vorschlag des französischen Präsidenten François Mitterrand, eine mit der Nato assoziierte, aber eigenverantwortlich handelnde europäische Verteidigungsorganisation aufzubauen, wurde nur von Deutschland halbherzig unterstützt und von allen anderen europäischen Nato-Mitgliedern abgelehnt.
Auch spätere Versuche, ein europäisches Verteidigungssystem zu schaffen, kamen nie über Absichtserklärungen oder symbolische Gesten heraus. So ist im Vertrag von Maastricht ein europäisches Verteidigungssystem vorgesehen. Im Juni 1996 wurde in Berlin sogar die Aufstellung multinationaler Eingreiftruppen unter europäischem Kommando und ohne amerikanische Beteiligung beschlossen. Im Dezember desselben Jahres verkündeten Jacques Chirac und Helmut Kohl in Nürnberg ein "gemeinsames deutsch-französisches Sicherheits- und Verteidigungskonzept", das auch gemeinsame militärische Einheiten mit einschließt.
Der Grund, weshalb diese Initiativen nie über das Anfangsstadium hinaus kamen, ist zum einen die Uneinigkeit Europas. Vor allem Großbritannien, das seinen Einfluß in Europa aus seiner besonderen Beziehung zu den USA ableitet, hat sich jeder entsprechenden Initiative vehement widersetzt. In Deutschland stimmen alle Parteien überein, daß die europäische Einheit nicht auf Kosten der transatlantischen Partnerschaft gehen darf. Diese Haltung entspringt weniger nostalgischen Gründen - der viel beschworenen Dankbarkeit für die Hilfe Amerikas nach dem Krieg - als dem raschen politischen und wirtschaftlichen Niedergang Osteuropas und Rußlands und den damit einhergehenden explosiven Konflikten, die ein Abrücken von den USA als höchst riskant erscheinen lassen.
Ein zweiter Grund für den Mißerfolg der europäischen Initiativen ist die militärische Überlegenheit der USA, die aufzuholen äußerst kostspielig wäre. Die französische Zeitung le monde hat errechnet, daß in der Europäischen Union zwar 1,9 Millionen Mann unter Waffen stehen - im Gegensatz zu 1,4 Millionen in den USA -, daß aber nur ein Bruchteil der amerikanischen Summe für Waffen und Munition ausgegeben werden. So verfügen Deutschland, Italien und Griechenland zusammen über 60 Prozent der amerikanischen Soldaten, geben aber nur 12 Prozent der amerikanischen Summe für militärische Hardware aus.
Frankreich hat aus dem Scheitern seiner Bemühungen den Schluß gezogen, sich selbst enger in die Nato zu integrieren. Es stellt beim gegenwärtigen Krieg das größte europäische Kontingent. Ein Verteidigungsexperte, François Heisbourg, begründet diese neue Taktik folgendermaßen: "Damit Frankreich seine Rolle als Pilotnation bei der Europäisierung der Verteidigung in vollem Umfang spielen kann, muß es sich wieder voll in die Nato integrieren. Zum einen, weil es sich heute in der schlimmen Lage befindet, daß seine Flieger und morgen vielleicht seine Soldaten Risiken aufgrund von Befehlen eingehen, an deren Ausarbeitung wir auf militärischer Ebene nicht beteiligt sind. Zum anderen, weil eine Nato, in der die Europäer als Block auftreten, die Möglichkeit bietet, die zunehmende Neigung der Amerikaner zum einseitigen Handeln zu bremsen, wie sie es schon im Irak seit der Operation Wüstenfuchs tun. So empfiehlt es sich, zugleich die Nato zu europäisieren und Amerika zu natoisieren. Das läßt sich nur machen, wenn Frankreich auf allen Ebenen präsent ist." ( le monde 15. April 1999)
Der Krieg um den Kosovo läßt nun den alten Konflikt zwischen "Europäern" und "Atlantikern" wieder aufleben. Immer lauter wird in Europa der Vorwurf erhoben, die USA hätten ihre Partner in einen Krieg hineingezogen, dessen Ende nicht abzusehen sei, und der ganz Europa aus dem Gleichgewicht werfe.
Typisch ist z.B. ein Bericht in der jüngsten Ausgabe des Spiegel, laut dem sich Außenminister Joschka Fischer im vergangenen Herbst nur aufgrund eines Ultimatums aus Washington an den militärischen Drohungen gegen Belgrad beteiligt habe. "Er wußte, daß er nur Außenminister werden könne, wenn er diesen Druck der Großmacht akzeptiere," schreibt der Spiegel. Auch der bereits abgewählte, aber noch amtierende Kanzler Kohl sei damals in höchstem Grade besorgt gewesen: "Kohl bedrückte die Abhängigkeit von den USA... Ihm paßte die ganze Richtung nicht, das wurde den Nachfolgern schnell klar." Außer Großbritannien sei zu jenem Zeitpunkt keiner der europäischen Staaten bereit gewesen zur Eskalation.
Der Spiegel gibt für seinen Bericht keine Quellen an, er stützt sich aber zweifellos auf Informationen aus Regierungskreisen. Daß solche Meldungen jetzt lanciert werden, ist ein deutliches Zeichen für das wachsende Unbehagen, das in den herrschenden Kreisen um sich greift. Zwei Dinge spielen dabei eine Rolle.
Zum einen unterhöhlt der Krieg, je länger er andauert, viele europäische Regierungen. In Griechenland, wo laut Meinungsumfragen über 90 Prozent der Bevölkerung den Krieg ablehnen und viele Serbien unterstützen, droht der Sturz der Regierung Simitis. In Deutschland läuft den Grünen die Basis davon. Wenn sich der Sonderparteitag am 13. Mai gegen den Krieg entscheidet, ist die Koalition von SPD und Grünen am Ende. Auch in Frankreich und Italien sitzen Parteien in der Regierung, die den Krieg offiziell ablehnen.
Zum andern droht eine Eskalation des Krieges die Spannungen mit Rußland zu verschärfen und ganz Osteuropa mit hineinzuziehen. Die Folgen - wirtschaftlich, sicherheitspolitisch und in Form neuer Flüchtlingsströme - würden vor allem die europäischen Nato-Mitglieder treffen.
Die europäischen Regierungen selbst halten sich - mit einigen Ausnahmen wie Griechenland und Norwegen - vorläufig mit offener Kritik am Kurs der Nato noch zurück. Dies würde als Ermutigung für Milosevic und als Sabotage an den Kriegszielen gewertet. Um so deutlicher melden sich dagegen die Presse und Politiker zu Wort, die nicht direkt in der Regierungsverantwortung stehen.
Helmut Schmidt, Bundeskanzler von 1975 bis 1982, hat in der Zeit einen Artikel unter der Überschrift "Die Nato gehört nicht Amerika" veröffentlicht, in dem er der amerikanischen Regierung vorwirft, sie wolle mit ihrer neuen Nato "dafür sorgen, daß sie Europäer sich auch im neuen Jahrhundert von Washington führen lassen." Diese Erwartung hat laut Schmidt "nur eine beschränkte Wahrscheinlichkeit für sich. Denn die zumeist innenpolitisch motivierte Rücksichtslosigkeit, mit der Washington seine aktuellen Interessen und seine Präponderanz durchsetzt, wird vielen Europäern zunehmend auf die Nerven fallen."
Er wirft den Amerikanern vor, sie hätten "keine langfristig angelegte Gesamtstrategie". Klar sei "nur ihre Vorstellung von ihrer eigenen künftigen machtpolitischen und militärischen Weltrolle". Die Partnerschaft zwischen Europa und Nordamerika bleibe dringend wünschenswert, endet Schmidt. "Doch sollte die Europäische Union nicht zu einem strategischen Satelliten Washingtons werden."
Noch drastischer äußert sich Egon Bahr, der als einer der Architekten der Entspannungspolitik der siebziger Jahre gilt, als er für die deutsche Regierung die Ostverträge aushandelte. In einer von der Zeitung taz organisierten Podiumsdiskussion wandte er sich entschieden gegen den Einsatz von Bodentruppen, weil dies eine unabsehbare Eskalation zur Folge hätte. Es drohe alles zusammenzubrechen, was seit 1975 an Entspannung aufgebaut worden sei. Es würden neue Spannungen zwischen Ost und West entstehen, das Schutzbedürfnis Europas durch die USA würde zunehmen und Europa könne abschreiben, ein eigener Faktor in der Weltpolitik zu werden.
Auch die französische Presse ist voll von Artikeln, in denen die USA des Hegemonialstrebens bezichtigt werden. So beginnt ein Artikel in le monde diplomatique mit den Worten: "Nachdem sich ihre ursprüngliche Aufgabe, der sowjetischen Bedrohung entgegenzutreten, überlebt hat, ist die Atlantische Allianz mehr denn je ein Instrument, das die amerikanische Hegemonie in Europa umsetzen soll."
Und in le monde, die ihre Seiten regelmäßig Gastkommentatoren aus Politik und Wissenschaft zur Verfügung stellt, bezeichnet Alain Joxe, ein ehemaliger sozialistischer Minister unter Mitterrand, einen militärischen Sieg im Kosovo als politische Niederlage für die Europäer: "Im Falle eines vollständigen Sieges müßte man sagen, daß es ein großer militärischer Sieg der Nato und daher der USA ist, und eine nicht zu behebende humanitäre Katastrophe und daher ein politischer Mißerfolg für Europa." Er schlägt vor, sofort eine von der Nato unabhängige europäische Kommandostruktur zu schaffen, eventuell unter Einbeziehung Rußlands.
Auf politischer Ebene äußern sich die wachsenden Spannungen innerhalb der Nato in der europäischen Forderung nach der Einbeziehung Rußlands und der UNO. Dies sind die beiden Schlüsselelemente des sogenannten "deutschen Friedensplans", der inzwischen auch von der Europäischen Union unterstützt wird, während er in Washington und London eher auf Ablehnung stößt.
Durch das Einschalten der UNO und Rußlands soll die führende Rolle der USA eingeschränkt werden. Hermann Scheer, einer der wenigen SPD-Abgeordneten, die offen gegen den Krieg auftreten, hat diesen Zusammenhang in einem Beitrag auf dem SPD-Parteitag in Bonn offen ausgesprochen: "Daß sich die Bundesregierung so schwer tut, die amerikanische Zustimmung für ihren Friedensplan unter Einbeziehung von UN-Generalsekretär Annan und Rußlands zu bekommen, hat einen zentralen Grund: Jede Lösung des Konflikts mit Hilfe Rußlands und der UN wäre gleichbedeutend mit dem Scheitern des Versuchs, die USA in der globalen ordnungspolitischen Rangordnung vor die UN und die USA-geführte Nato vor die OSZE zu stellen."
Im Krieg um den Kosovo treten so immer deutlicher die Spannungen zwischen den Großmächten selbst zutage. Seine Auswirkungen erstrecken sich längst über die Grenzen des Jugoslawiens und des Balkans hinaus. Die Situation erinnert immer mehr an den Beginn des Jahrhunderts, als die Konflikte auf dem Balkan einen Weltbrand auslösten. Die Gefahr einer unkontrollierten Eskalation des Krieges, die wachsenden Spannungen zwischen den kriegsführenden Mächten und die Rücksichtslosigkeit und der Leichtsinn der verantwortlichen Politiker stellen ein explosives Gemisch dar.