Die Krise auf dem Balkan spitzt sich zu
Blutige Unruhen in Albanien
Von Justus Leicht
22. September 1998
Mit den bürgerkriegsähnlichen Unruhen in Albanien am zweiten Septemberwochenende hat sich die Krise auf dem Balkan weiter zugespitzt.
Anhänger des im letzten Jahr gestürzten Ex-Präsidenten Sali Berisha, die sich bereits seit dem letzten Herbst immer wieder bewaffnete Auseinandersetzungen mit der Staatsmacht geliefert hatten, besetzten in der Hauptstadt Tirana Fernsehen, Radio und Parlament. Erst nach blutigen Kämpfen wurden sie wieder von der Polizei vertrieben.
Auslöser war die Ermordung von Hazdem Hajdari, einem Parlamentsabgeordneten und prominenten Gründungsmitglied der 1991 von Berisha ins Leben gerufenen "Demokratischen Partei" (DP). Mittlerweile hat das albanische Parlament in Abwesenheit der DP-Abgeordneten die strafrechtliche Immunität Berishas aufgehoben, der vor den Unruhen wiederholt zum bewaffneten Sturz der Regierung von Premierminister Fatos Nano aufgerufen hatte. Die Regierung wird von der "Sozialistischen Partei" (SP), der früheren Staatspartei "Partei der Arbeit Albaniens" (PAA) geführt. Sie wirft Berisha versuchten Staatsstreich vor.
Die USA und die europäischen Länder haben sich hinter die Ex-Stalinisten gestellt und Berisha vor einer gewaltsamen Machtübernahme gewarnt. Die amerikanische Regierung erklärte, sie würde keine Regierung dulden, die "mit gewaltsamen Mitteln an die Macht gekommen ist". Gleichzeitig haben die westlichen Länder auch die Regierung unter Druck gesetzt, von einer Verhaftung Berishas vorerst abzusehen, um weitere Unruhen zu vermeiden, und mit der DP in einen Dialog zu treten.
Bisher jedoch gibt es keinen solchen Dialog, auch die Proteste gegen Nano gehen weiter. Die Opposition hat sich geweigert, ihre Waffen abzugeben, und noch in derselben Woche im Norden Albaniens, wo Berisha am meisten Einfluß hat, eine Polizeistation der Regierung gestürmt. Die Regierung wiederum hat gedroht, die Opposition notfalls auch gewaltsam zu entwaffnen. Seit dem Aufstand gegen die DP-Regierung im letzten Jahr sind zwischen einer halben und einer Million Kalaschnikows und anderer Waffen aus Armeebeständen im Umlauf.
Wie ist es zu der heutigen Lage gekommen?
Von dem Zusammenbruch der stalinistischen Regime in Osteuropa war 1990 auch Albanien erfaßt worden. Es gab Studentendemonstrationen, zahlreiche Stalinisten wandelten sich über Nacht zu glühenden Antikommunisten. Unter ihnen befand sich auch Sali Berisha, der vorher Leibarzt von Enver Hoxha und PAA-Sekretär der medizinischen Fakultät von Tirana gewesen war. Hoxha hatte Albanien vom Kriegsende bis zu seinem Tod 1985 diktatorisch beherrscht.
Aus Wahlen im März 1991 ging die PAA als Siegerin hervor, die darauf eine Koalition mit der DP bildete. Die "Demokraten" akzeptierten das Wahlergebnis jedoch ebenso wenig wie der Internationale Währungsfonds, der seine Wirtschaftshilfe stoppte. Erneute Wahlen im März 1992 brachten Berisha an die Spitze des Staates. Er leitete dem Willen des IWF entsprechend eine "Schocktherapie" nach bekanntem Muster ein, öffnete die albanische Wirtschaft dem ausländischen Kapital und stellte Albanien der NATO als Manövergebiet und Operationsbasis für Einsätze in Bosnien zur Verfügung. Unter dem Druck der USA rückte er auch von seiner ursprünglichen Unterstützung für die Unabhängigkeitsbestrebungen der "Brüder und Schwestern im Kosovo" ab.
Während Produktion und Reallöhne drastisch absackten und die Arbeitslosigkeit stieg, bereicherte sich im Zuge der "Marktreformen" eine schmale Schicht von alten Bürokraten, skrupellosen Aufsteigern und hartgesottenen Kriminellen unter der schützenden Hand der DP-Regierung. Die wichtigsten Quellen des neuen Reichtums waren Diebstahl am Staatseigentum, genannt "Privatisierung", sowie Drogen-, Waffen- und Menschenhandel. Trotzdem wurde Albanien 1994 vom IWF überschwenglich gelobt und gar als Modell für ganz Osteuropa gepriesen.
Im gleichen Jahr begann der Stern Berishas bereits wieder zu sinken. Bei einer Volksabstimmung über mehr präsidiale Vollmachten für ihn erlitt er eine Niederlage.
Um diese Zeit sollen auch die "Pyramidenfonds" entstanden sein, die von der Regierung massiv gefördert wurden. Investmentfirmen boten immer höhere Zinsen, um Anleger anzulocken, und finanzierten so geschäftliche Investitionen - und die DP. Die angebotenen Zinsen waren schließlich so hoch, daß sie - wie bei den sogenannten Kettenbriefen - nur noch mit dem Geld immer neuer Anleger bezahlt werden konnten. Im Wahljahr 1996 wurde dieses System noch ausgeweitet. Ein neues Bankengesetz verlangte keine Sicherheitsreserven mehr.
Trotz alledem mußte Berisha bei den Wahlen, wie die OSZE zugab, zu massiven Fälschungen und Repressionen gegen die Opposition greifen. USA und EU sahen großzügig darüber hinweg. Im Frühjahr 1997 brachen die Pyramidenfonds jedoch zusammen, ein großer Teil der Bevölkerung verlor seine gesamten Ersparnisse, ein Aufstand mit Schwerpunkt im Süden des Landes brach los.
Nun schwenkte der Westen um: die USA drängten Berisha (vergeblich), ins Exil zu gehen. Die SP wurde aufgefordert, "Verantwortung zu übernehmen", um den Aufstand unter Kontrolle zu bringen. Sie gehorchte, trat in eine "Regierung der nationalen Einheit" ein und wandte sich gegen einen sofortigen Rücktritt des verhaßten Präsidenten. Der SP-Vorsitzende Fatos Nano, 1993 in einem Schauprozeß zu zwölf Jahren Haft verurteilt, wurde freigelassen. Der ehemalige Dozent an dem von der Witwe Enver Hoxhas geleiteten Institut für ideologische Studien begrüßte auch die von Italien geführte militärische Intervention zur "Wiederherstellung der Stabilität".
Nachdem die albanischen Ex-Stalinisten und die italienischen Militärs dann den Aufstand unter Kontrolle gebracht hatten, trug die SP trotz Ausnahmezustand und Behinderungen einen Wahlsieg über die völlig diskreditierte DP davon. Im Monat darauf wurde auch Berisha selbst im Präsidentenamt durch den SP-Mann Mejdani abgelöst.
Wie nicht anders zu erwarten, unterschied sich die Politik der SP in nichts von der ihrer Vorgänger. Korruption und Vetternwirtschaft blühten, während das Land in Armut und Kriminalität versank. Von ihren verlorenen Spareinlagen hat die Bevölkerung nur wenig wiedergesehen, vieles von dem "Pyramidengeld" blieb verschwunden, trotz - oder wegen? -der "Suche" des Finanzministeriums.
Von all dem nahm der Westen recht wenig Notiz. Immerhin fügte sich die neue Regierung gehorsam all seinen Wünschen. Im Dezember letzten Jahres äußerte Nano sogar den ausdrücklichen Wunsch, Italien möge doch Albanien wieder als Schutzmacht dienen. Auch die Tatsache, daß in weiten Teilen Albaniens nahezu anarchische Zustände herrschten und der ständige Konflikt zwischen der regierenden SP und den bewaffneten Banden der DP eher einem Kampf rivalisierender Mafia-Clans als einer politischen Auseinandersetzung glich, schien kein übermäßiger Anlaß zur Besorgnis zu sein.
Als aber ab März diesen Jahres die Lage im benachbarten Kosovo eskalierte, änderte sich die Situation. Von der zentralen Macht verdrängt, entdeckte der im Norden immer noch praktisch allein herrschende Berisha wieder sein Herz für "die albanischen Brüder und Schwestern" auf serbischem Staatsgebiet. Er arbeitete eng mit der separatistischen Guerillaorganisation UÇK ("Befreiungsarmee Kosovos") zusammen. Diese konnte Nordalbanien als Ruheraum, Ausbildungs- und Nachschublager nutzen. Berichten zufolge werden die Anhänger Berishas - deren Kern aus Mitgliedern seines damaligen Geheimdienstes und seiner früheren Präsidialgarde bestehen soll - von Kämpfern der UÇK unterstützt.
Und hier beginnt das Problem der westlichen Mächte, das zu den hektischen diplomatischen und politischen Aktivitäten der letzten Monate geführt hat. Die separatistischen Bestrebungen im Kosovo stellen nämlich nicht nur die "territoriale Integrität" Serbiens in Frage, die auf der Unterdrückung der Kosovo-Albaner beruht, sondern bedrohen letztlich das gesamte labile politische Gleichgewicht auf dem Balkan.
Schon jetzt ist in vielen Ländern der Nationalismus wieder stark aufgeflammt. Bei den Wahlen in Bosnien scheint sich in allen ethnischen Enklaven ein Sieg der extremen Chauvinisten abzuzeichnen. Im an den Kosovo grenzenden, ebenfalls mehrheitlich albanisch bevölkerten Westteil Mazedoniens genießt die UÇK beträchtliche Sympathien. Befürworter einer Abspaltung, die in Kontakt zu Berisha stehen, haben auch dort Zulauf.
Des weiteren grenzt Albanien im Süden an Griechenland, wo der Chauvinismus ebenfalls zunimmt. Griechische Nationalisten beanspruchen nicht nur Mazedonien als historischen Bestandteil ihres Landes, sondern erheben auch Gebietsansprüche in Südalbanien. Besonders die orthodoxe Kirche hat sich nie damit abgefunden, daß die griechische Regierung solche Ansprüche in den achtziger Jahren offiziell aufgab. Seit Mitte August macht ihr neues Oberhaupt durch offene Kriegshetze, insbesondere gegen die Türkei, auf sich aufmerksam, und erhält Beifall von der konservativen parlamentarischen Opposition.
Einem Zeitungsbericht zufolge hat Griechenland "außerordentliche Maßnahmen" an seiner Grenze zu Albanien getroffen, nachdem dort während der Unruhen auch Zollposten umkämpft waren. Die Türkei wiederum hat öfters ihre Sympathie mit den mehrheitlich moslemischen Albanern ausgedrückt. Sie hatte Anfang der neunziger Jahre sogar ein Militärabkommen mit Albanien geschlossen und ist seit langem der große Rivale Griechenlands in der Region. Beide Länder sind Mitglied der NATO.
Hieraus erklärt sich die zögerliche Haltung der westlichen Länder gegenüber dem serbischen Vorgehen im Kosovo. Die NATO will ungeachtet allen Drohens und Säbelrasselns keine Schwächung der serbischen Kampfeinheiten, weil dies automatisch ein Vorteil für die UÇK wäre. Und ein Einsatz von Bodentruppen würde die NATO möglicherweise in einen Partisanenkrieg verwickeln, der nur schwer militärisch zu gewinnen ist. Andererseits steigen nationalistischer Haß und Verbitterung, je länger sich der Konflikt hinzieht. Deshalb setzt die NATO darauf, die UÇK zu schwächen, einen Waffenstillstand zu erreichen und sie in Autonomieverhandlungen einzubinden. Diesem Ziel soll notfalls durch Luftschläge der NATO oder eine vom deutschen und italienischen Außenminister ins Gespräch gebrachte "Polizeimission" nach Albanien Nachdruck verliehen werden. Zu den Aufgaben einer solchen "Polizeimission" gehört, die DP wieder "in die Verantwortung hineinzunehmen" und von ihrer Unterstützung der UÇK abzubringen.
UÇK-Sprecher Adem Demaçi hat mittlerweile Verhandlungen mit Belgrad zwar nicht grundsätzlich ausgeschlossen, aber im Gegensatz zu seinem Rivalen Ibrahim Rugova die bisherigen Verhandlungsvorschläge abgelehnt. Er gab jedoch Ende August zu, daß die UÇK intern zwischen seinen und Rugovas Anhängern gespalten sei.
Auf dieser Grundlage scheint sich ein möglicher Rahmen für Verhandlungen abzuzeichnen, der wohl auf die Pendeldiplomatie des amerikanischen Diplomaten Christopher Hill zwischen Belgrad und Pristina zurückgeht. Der Kern davon besteht darin, daß dem Kosovo "zunächst" in einem "Übergangszeitraum" von drei bis fünf Jahren Autonomie gewährt würde, mit einem eigenen Bildungssystem und vor allem einer eigenen Polizei. Was danach kommt, ist offen.
Lösen würde eine derartige Regelung nichts. Das zeigt ein Blick nach Bosnien. Während die Lebensbedingungen und demokratischen Rechte der breiten Massen noch schlechter werden, bereichert sich eine dünne Schicht von Funktionären und Geschäftsleuten. Ehemalige bewaffnete Nationalisten übernehmen als Polizei die Unterdrückung ihrer eigenen Landsleute. Damit einhergehend erstarken auf beiden Seiten mit chauvinistischen Gewalttaten und Gezeter über "nationalen Verrat" die reaktionärsten Kräfte.
Wieder einmal erweist sich auf tragische Weise, daß gerade auf dem Balkan Nationalismus und Intrigen der Großmächte nur in eine Sackgasse führen können.